Wind über Ammeroog (6)
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Was bisher geschah: Vivienne macht auf der Nordseeinsel Ammeroog Urlaub in einem Ferienhaus in einer exklusiven, abgelegenen Siedlung. Sie hat nicht nur das Haus, sondern die ganze Siedlung für sich allein. Bei einem Spaziergang am Strand erfährt sie, dass eine Sturmflut bevorsteht. Zurück im Haus erfüllt sich Vivienne geheime Wünsche: Sie zieht sich eine Windel und ein Eichhörnchenkostüm an und beginnt zu fantasieren, dass ihre Familie sie sehen würde. Als der Sturm seinen Höhepunkt erreicht, bricht es aus ihr heraus: Wütend schimpft sie die aus, die ihr sagen, dass sie sich benehmen soll, und ohne nachzudenken was sie tut, rennt sie aus dem Haus.
Sie hatte es getan. Sie stand draußen. Sie war der Kraft der Natur vollkommen ausgeliefert, und die Natur tat mit ihr, was sie wollte. Der Wind zog und schüttelte, der Regen peitschte und stach. Ihre Haare flatterten und zuckten aufgeregt, als würden tausend kleine Hände daran zupfen. Es war ihr alles egal. Sie öffnete den Mund und schrie, schrie einen lauten Schrei, der seit langer Zeit in ihr gereift war. Sie schrie mit voller Kraft, war aber trotzdem kaum zu hören. Der Wind war immer noch lauter.
Sie verstand es als Herausforderung. Ohne zu zögern machte sie einige Schritte nach rechts, hinüber zu den anderen Häusern. Sie sah kaum, wo sie hinlief, die Welt war in Schwarz getaucht, nur schemenhaft nahm sie Konturen wahr. Sie wusste, dass das am Wetter lag, nicht an ihr. Jeder andere hätte genauso wenig und verschwommen gesehen wie sie, aber in ihrem Inneren regte sich die verzagte Beklemmung, ob es jetzt vielleicht wieder so weit war, ob sie jetzt wieder ihre Sinne verlor, wie vor ein paar Wochen im Büro. Halb erschrocken, halb erleichtert stellte sie fest, dass es ihr egal war. Sollte sie doch! Sollte sie doch die Kontrolle verlieren!
‚Ich bin nicht auf dem Festland.‘ dachte sie, und nie hatte dieser Begriff mehr Bedeutung gehabt als jetzt. Hier schien überhaupt nichts fest. Es war, als wäre es nur eine Gnade der Natur, dass sie diese kleine Insel nicht mit einem Handstreich fortriss, in den Himmel zog oder im Meer versenkte. Es war so viel mächtiger als sie. Es heulte, und sie heulte mit. Ihre Füße traten in nassen Sand. Abgerissene Haferhalme legten sich um ihre Waden und Schenkel und der Wind traf sie überall, an den Beinen, dem Bauch, den Brüsten, zerrte und schlug. Er wurde nur wilder, je weiter sie vom Haus wegging, als konnte er nicht fassen, dass sie sich nicht vor ihm fürchtete. Vivienne begann sich zu drehen. Sie kramte eine vierzig Jahre alte Erinnerung hervor und probierte eine Pirouette so wie damals im Ballettunterricht, aber sie hatte nicht mehr die Sehnen und Gelenke einer Achtjährigen, und hier stob ein Wind, der ihr die Füße wegriss. Sie fiel, stützte sich mit den Handgelenken ab und rappelte sich wieder auf. Sie sah sich um. Ihre Augen hatten sich langsam an die dunklen und unruhigen Lichtverhältnisse gewohnt. Dass ihre Wahrnehmung noch funktionierte registrierte sie beinahe beiläufig. Sie stand in der Mitte des Platzes zwischen den Häusern. Ihr fiel auf, dass sie nicht mehr wusste, welches ihres war. Im Sturm schienen sie alle gleich. Es hätte sie erschrecken sollen, aber sie brachte nur ein irres Lachen zustande. Es war ihr egal. Es war ihr aus irgendeinem Grund egal.
Sie verstand es selbst nicht.
Dann aber erkannte sie doch auf einem der Grundstücke eine merkwürdige Apparatur, und sofort wusste sie, dass das nur das Klettergerüst sein konnte, das auf dem größten der Grundstücke stand, dem, das als erstes bebaut worden war. Das reichte ihr zur Orientierung. Sie war schon fast darüber enttäuscht. Dieses Wissen gab ihr Sicherheit, aber sie scherte sich gerade nicht um Sicherheit. Ohne langes Nachdenken stapfte sie hinüber zum Gerüst. Ihre Beine stießen gegen etwas Festes. Als sie nach unten blickte, sah sie, dass es eine kleine Buchsbaumhecke war, die den Rand des Grundstücks abgrenzte. Lachend machte sie einen großen Schritt, und sie mochte das Gefühl der Windel, als sie die Beine spreizte. Auf der anderen Seite spürte sie Gras. Der Nachbar hatte sich tatsächlich die Mühe gemacht, etwas Ortsfremdes zu sähen.
Im Inneren des Hauses regte sich nichts. Es lag dunkel. Vorhänge, insofern es sie gab, waren zugezogen. Vivienne wusste, dass die Bewohner der Siedlung alle miteinander befreundet waren, aber ungefragt das Grundstück zu betreten barg dennoch einen gewissen Nervenkitzel.
Sie griff an eine der Metallstangen des Gerüsts. Sie fühlte sich nass und kalt an, kälter als es die Stangen für gewöhnlich waren. Das Gerüst bestand aus mehreren einfachen ineinander verschraubten Stangen, die in Abständen von etwa einem Meter so zueinander standen, dass sie ungefähr einen Würfel bildeten, der sich aus zwei mal drei mal drei Einzelwürfeln zusammensetzte. Vorwitzig zog Vivienne den rechten Fuß hoch, bis sie mit dem Ballen Halt auf einer der Stangen in mittlerer Höhe fand. Es kribbelte, als sich der Bund der Windel spannte. Wie lange war es her, dass sie in so etwas gespielt hatte? Kurzerhand griff sie in die Stangen, zog sich hinein und kletterte jauchzend durch die Apparatur, die für Kinder gedacht war. Es machte ihr unglaublichen Spaß, sich in kriechend gebückter Haltung durch den kleinen Gang zu manövrieren. Am anderen Ende des Gerüsts angekommen blieb sie hocken, die Beine auf der zweituntersten Stange in einem Meter Höhe. Ihr Blick glitt herüber zum Haus. Der Wind zerrte an ihm und an dem Reet, das das Dach deckte, aber innen war noch immer alles stumm. Es war niemand da. Vivienne wusste das.
Übermut überkam sie, und sie beschloss, heute jeder Angst und jeder Sorge die Stirn zu bieten.
Entschlossen stieg sie vom Gerüst herunter und ging hinüber zur Tür des Hauses. Sie war, wie das gesamte übrige Haus, ansprechend, geschmackvoll, und in einem guten Zustand. In Brusthöhe war ein Türklopfer angebracht, in Form einer krötenhaften Fantasiekreatur, aus deren Maul der Klopfring hing, darüber prangte auf einem tönernen Schild, das unruhig hin und her wippte, der Name „Brevers“. Es war nicht offensichtlich, welchem Zweck der Klopfer dienen sollte. Hier in dieser Siedlung kam nie zufällig eine unbekannte oder uneingeladene Person vorbei, und jeder andere würde den Klopfer unangetastet lassen und einfach eintreten. Jetzt kam er Vivienne aber gelegen.
Sie griff den Ring und schlug ihn dreimal fest gegen die Aufschlagfläche aus Messing. So laut der Wind auch heulte, wenn jemand in dem Haus wäre, müsste er es gehört haben.
Sie wartete fünf Sekunden.
Nichts.
Sie klopfte noch einmal, dieses Mal besonders fest. Aber es regte sich immer noch nichts. Aus dem Haus kam kein Laut, im Inneren wurde kein Licht angeknipst, keine Gardine wurde auch nur einen Zentimeter beiseite gezogen.
„Hallo?“ rief Vivienne.
Keine Antwort.
„Hallo? Ist jemand zu Hause?“
Noch immer antwortete niemand. Ein besonders starker Windstoß fasste Vivienne und fuhr ihr über den Rücken wie eine kalte Pranke. Sie ächzte kurz, dann fasste sie sich.
„Hallo? Herr und Frau Brevers? Mein Name ist Vivienne Bauer! Ich bin achtundvierzig Jahre alt, geschieden und habe drei Kinder. Ich bin Leiterin der Entwicklungsabteilung in einem mittelständischen Unternehmen und bin direkte Vorgesetzte von neun Leuten. Heute laufe ich in einer Windel rum! Wollen Sie sich mich mal ansehen?“
Niemand antwortete. Ihr schlimmster Alptraum wurde nicht wahr.
„Ich habe nur eine Windel an“, rief sie, „sonst bin ich nackt. Los, kommen Sie! Hier gibt es was zu gucken! Holen Sie am besten die ganze Familie!“
Vivienne rief aus voller Kehle, in der Gewissheit, dass niemand sie hören konnte.
„Wenn Sie wollen, pinkel ich mir da rein!“
Vivienne erschrak selbst über ihre Worte. Sie hatte bis jetzt gar nicht daran gedacht, die Windel zu benutzen. Sie hatte sie immer nur als eine Art Accessoire betrachtet, als etwas, das ihr Kostüm abrundete, denn was sonst sollte man darunter anziehen? Aber nun hatte sie das Kostüm ausgezogen, im Haus gelassen, damit es nicht schmutzig wurde; sie stand vor einer fremden Haustür im Sturm, und die Windel war alles, was sie trug. Warum sollte sie es nicht tun? Die Natur tat heute mit aller Gewalt, was sie wollte, wer wäre sie, dass sie ihr jetzt nicht ihren Lauf lassen wollte? Und jetzt war kein Moment, in dem sie sich zurückhielt.
Sie klopfte noch einmal.
„Soll ich mal pinkeln? Ich mache das gerne! Ich mache das jetzt mal, ja?“
Wieso sagte sie das, woher kam das?
Sie machte zwei Schritte rückwärts, um etwas Abstand zur Tür zu bekommen, herunter von der Fußmatte, auf der „Kumm rin, kiek ut“ gestickt war. Sie zitterte. Es wäre angebracht gewesen, wegen der Kälte zu zittern, aber sie war nicht der Grund.
„Ich mach das jetzt!“ rief Vivienne und stellte die Beine, so dass sie etwas breiter als gewöhnlich standen, und presste. Es lief nicht sofort. Dem Befehl ihres Willens standen fünfundvierzig Jahre Konditionierung gegenüber, die sagten, dass sie doch unmöglich Wasser lassen konnte, wenn sie eine Hose trug, oder zumindest etwas, das einer Hose ähnlich kam. Sie spürte, dass sich etwas in ihr regte, aber noch war ihre Haltung nicht geeignet, um sich zu erleichtern, also machte sie die Beine noch ein wenig breiter, senkte das Becken und stellte sich auf Zehenspitzen, das letztere rein instinktiv. Es dauerte nur eine Sekunde, ehe ein Windstoß sie fast umriss, und schnell stellte sie sich auf ihre Sohlen, um etwas weniger wacklig zu stehen.
Und dann spürte sie wie es mit einem Mal warm in ihrem Schritt wurde. Sie keuchte überrascht auf. Jetzt erst wurde ihr klar, was sie da gerade tat. Sie nässte sich ein. Sie pinkelte sich in die Windel. Sicher, in gewisser Hinsicht war das nicht völlig verrückt, immerhin nutzte sie die Windel genau für das, wofür sie vorgesehen war, aber sie hätte trotzdem nicht gedacht, dass sie es tun würde. Sie hatte die Windel getragen, um sie zu tragen. Nicht um sie zu benutzen.
Jetzt aber spürte sie, wie sich die Konsistenz im Inneren der Windel änderte. Es fühlte sich nicht mehr wie Stoff an, es war nun eine warme Schicht, die sich um ihren Unterleib schmiegte. Es war surreal. Der Teil ihres Körpers außerhalb der Windel wurde von den Elementen geplagt, der Teil innerhalb wurde warm gehalten von dem, was in ihrem Körper gewesen war.
Sie hatte nicht lange gemusst. Nach einigen Sekunden war ihr Strom versiegt und mit einem Gefühl der Verwunderung ging sie einige Schritte in dem nassen Gras des Vorgartens auf und ab. Es fühlte sich so merkwürdig und so ungewohnt zwischen ihren Beinen an. Sie konnte nicht glauben, dass sie das gemacht hatte, und gerade hier und unter diesen Bedingungen. Aber sie hatte es getan.
Sie drehte sich zum Haus. „Da! Toll, oder? Ist doch toll, was ich schon alles kann!“
Sehr dicht neben sich sah sie einen massiven Gegenstand, groß wie ein länglicher flacher Schuhkarton, durch die Luft wirbeln. Sie drehte sich herum und beruhigte sich sofort. Es war der Sitz der Schaukel, der üblicherweise an zwei langen Ketten von einer Querstange baumelte, bei diesem Wind aber wie tollwütig durch die Dunkelheit zuckte.
Vivienne griff beherzt zu und hielt die Sitzschale fest.
„Darf ich mal schaukeln? Darf ich mal mit meinem Windelpo auf die Schaukel?“
Das Haus schwieg.
Sie zog die Schale herunter und setzte sich. Es fühlte sich unbeschreiblich an, als der warme Windelstoff gegen sie presste. Sie keuchte. Als sie nach vorne schwang, wurde sie mitsamt der Schaukel vom Wind gefasst und schwang etwas weiter, als sie es unter normalen Bedingungen getan hätte. Als sie jedoch zurückschwang, kam sie kaum über den Nadir hinaus. Es war als würde sie in ein weiches Kissen gepresst werden. Oder als stünde jemand hinter ihr, der sie bremste und auf sie achtgab.
„Stoß mich an.“ sagte sie, und dann ging es mit aller Kraft in die andere Richtung, mit einer Geschwindigkeit, die ihr den Atem raubte und sie vor Vergnügen schreien ließ. Es war, als würde sie zum ersten Mal in ihrem Leben dieses Gerät benutzen. Noch nie hatte es sich so sehr angefühlt, als würde sie wirklich fliegen. Sie schwang einige Male hin und her, zwischen der nicht greifbaren Bremse in ihrem Rücken und dem stetig höher wandernden Scheitelpunkt. Fast beschrieb die Schaukel schon einen rechten Winkel. An der niedrigsten Stelle holte sie immer wieder mit sanften Trippelschritten etwas Schwung, aber eigentlich war es nicht mehr nötig. Sie war ein Spielzeug des Windes geworden.
„Höher“, rief sie, „höher!“
Sie war nie ein großer Freund von Fahrattraktionen auf Jahrmärkten oder ähnlichem gewesen, und wenn eines ihrer Kinder in einen Scooter oder eine Gondel steigen wollte, hatte sie immer Hannes mitgeschickt. Jetzt spürte sie aber den Kitzel, und sie scheute sich nicht, gegen das Heulen des Windes anzuschreien. Der Regen hatte sie mittlerweile völlig durchnässt, und bei jedem Schwung zurück klatschten ihr nasse kalte Strähnen in den Rücken.
‚Ich lebe‘, dachte sie, ‚ich lebe. Verdammt, ich bin noch nicht tot.‘
Und dann flog sie wirklich. Zunächst dachte sie, dass die Schaukel nur besonders hoch geschwungen wäre, aber dann spürte sie nicht mehr das Plastik der Sitzschale durch das Windelvlies, und die Kettenglieder, die bislang straff in ihren Händen waren, wurden schlaff. Etwas stimmte nicht. Etwas war völlig falsch. Wild strampelte sie mit den Beinen und trat Luft, vor ihr drehte sich die Welt. Hinter sich hörte sie ein metallisches Krachen. Sie schrie voller Angst auf, dann spürte sie Boden auf ihrer linken Körperhälfte, an Oberschenkel und Unterarm. Es waren Gras und sandiger Matsch. Sie hätte nicht um viel weicheren Untergrund bitten können, aber es tat trotzdem weh. Sie rollte über den Boden, drehte sich zweimal um sich selbst, bis sie plötzlich Matsch unter sich spürte und sie unsanft von etwas Stacheligem gebremst wurde. Sie war von der Rasenkante gerollt, hinein in die Buchsbaumbüsche, die direkt am Haus gepflanzt waren. Sie spürte Schlamm und abgerissene Halme überall an ihrem Körper. Noch völlig orientierungslos hob sie den Kopf und sah auf. Eine obskure Struktur ragte vor ihr auf, und sie brauchte mehrere Sekunden, bis sie verstand, was sie da sah.
Es war das Gerüst samt Schaukel.
Sie war zusammengebrochen.
Sie war zusammengebrochen, während sie auf ihr geschaukelt hatte, und jetzt lag sie als ein Haufen wirr durcheinander liegender Stangen auf dem Rasen. Eine der Ketten von der Schaukel hatte sich gelöst und schlängelte sich über den Rasen wie eine Kobra, bereit zum Zupacken. Ungläubig erhob sich Vivienne, nur nebenbei registrierte sie den Schmerz, der von ihrem Oberschenkel ausstrahlte. Sie hatte es kaputtgemacht. Sie hatte ein Klettergerüst für Kinder kaputtgemacht, eines, das sich auf einem Grundstück befand, auf dem sie nichts zu suchen hatte.
‚Nein‘, dachte sie, ‚das war nicht ich. Das war der Sturm. Natürlich war es der Sturm. Niemand wird mich je verdächtigen.‘
Das stimmte sicherlich, aber trotzdem beruhigte sie der Gedanke kaum. Wieder sah sie herüber zu dem Haus, in dem die Menschen wohnten, deren Eigentum sie gerade zerstört hatte, und noch immer regte sich nichts in seinem Inneren, aber die Stille kam ihr nun bedrohlicher vor, und zwar auf eine Weise bedrohlich, der sie nicht mehr spielerisch begegnen wollte. Sie wollte nicht mehr hier sein. Sie ging über den Rasen, und erst an ihrem tapsigen Schritt merkte sie, wie benommen sie war. Erschrocken zuckte sie zusammen, als eine der heftigeren Böen die Stangen klappern ließ, aber sie waren zu schwer um bewegt zu werden. Trotzdem war es kein sicherer Ort mehr. Vivienne verließ das Grundstück über das kleine gelbe Gartentor, das sie bei ihrer Ankunft nicht einmal wahrgenommen hatte.
Eigentlich wäre es nun Zeit gewesen, in ihr Haus zurückzukehren. Sie hatte ihren Spaß gehabt, sie hatte sich euphorisch gefühlt, und sie war haarscharf einem Unglück entgangen. Sie war völlig durchdreckt von Gras und Schlamm, und ihre Windel musste mal gewechselt werden. Es wäre nur vernünftig, jetzt wieder ins Warme und Trockene zu gehen, wo sie geschützt wäre.
Eigentlich.
Es gab noch eine Sache, eine einzige, letzte Sache, die sie tun musste.
‚Aber beeil dich.‘
Sie stakste durch den Wind, über den Platz in der Siedlungsmitte, nach Norden. Als sie die Häuser hinter sich gelassen hatte, merkte sie erst, welchen Schutz sie geboten hatten. Hier wehte der Wind, wenn das denn überhaupt möglich war, noch stärker. Pflanzenteile peitschten sie, Wassertropfen und Salzkristalle stachen sie. Es war, als würde der Wind sie anbrüllen, dass sie umdrehen solle, jetzt sofort, hier wäre kein Ort für sie. Und insgeheim stimmte sie ihm zu, aber es gab eine Sache, die sie noch tun wollte. Nur ganz kurz.
Sie wollte das Meer sehen.
Eigentlich war der Weg kurz. Wenn man bei gutem Wetter rannte, brauchte man von der Siedlung bis zum Kamm der Scheuermanndüne keine dreißig Sekunden.
Vivienne brauchte gute drei Minuten, in gebückter Haltung, und mit einer starken Ausgleichsbewegung, damit der Wind sie nicht zu sehr nach Westen abtreiben würde. Es war ein besonderer Kraftakt, als sie spürte, wie der Boden anstieg. Ihre Kräfte gingen dem Ende entgegen. Wenn sie damit fertig war, würde sie gar nichts mehr machen können. Aber das war nicht schlimm, sie würde gar nichts mehr machen müssen.
Und plötzlich musste sie nicht weiter steigen. Sie hob den Kopf. Sie hatte den höchsten Punkt erreicht. Und so dumm und leichtsinnig es auch gewesen war, hierhin zu kommen, so wenig bereute sie, es getan zu haben. Der Anblick entschädigte für alles. Sie hatte das Meer schon oft gesehen, aber noch nie so wie jetzt. Unter dem schwarzem Himmel zeichnete es sich fast völlig weiß ab, ein einziges Gemisch aus Gischt und Schaumkronen. Tosend und krachend hoben und senkten sich, was man schwerlich noch Wellen nennen konnte. Sie sahen aus wie zerrissene Laken, die in der Maschine geschleudert wurden. Zitternd hob Vivienne die Arme seitlich hoch, sie wusste nicht genau wieso. Der Wind schlug ihr gegen ihre Seite und machte ihr unmissverständlich klar, dass er sie, wenn er wollte, einfach forttragen und zerschmettern könnte. Sie war ihm ausgeliefert.
Und sie schrie.
Schrie so laut sie konnte, gegen den Wind an, und sie verlor, er verschluckte jedes Wort. Sie spürte, wie eine Strähne ihres eigenen Haares in ihren Mund geweht wurde, sie schmeckte nach Schlamm und Salz. Aber sie schrie weiter.
Sie war nicht tot. Sie war noch nicht tot, verdammt.
Und dann, plötzlich, spürte sie Kälte, dort, wo sie zuvor keine gespürt hatte, eine Spannung löste sich, und etwas strich an ihrem linken Oberschenkel entlang. Erschrocken sah sie an sich herunter.
Sie war nackt.
Der Wind hatte ihr die Windel vom Körper geweht, als ob ein vor Leidenschaft enthemmter Liebhaber ihr den Slip vom Körper gerissen hätte (nicht dass Vivienne so etwas je erlebt hätte. Sie hätte es mit hoher Wahrscheinlichkeit auch nicht geschätzt, wenn jemand so mit ihr umgesprungen wäre). Nun war sie gänzlich schutzlos, und der Wind fuhr mit aller Kraft und Grobheit auch über ihre empfindlichsten Stellen. Erschrocken sah sie sich um, nach Osten, in die Richtung, in die der Wind geweht war. Dass sie die Windel verloren hatte – nun, das war nicht so dramatisch, sie hätte sie ohnehin in fünf Minuten gewechselt. Auch dass sie nun nackt war, störte sie nicht wirklich, es war ja niemand da, der sie in diesem Zustand hätte sehen können. Aber der Gedanke, dass die Windel nun fortgeweht werden würde und sie vielleicht jemand finden und sich Gedanken machen würde, wo sie herkäme – das wollte sie auf jeden Fall verhindern. Ihr fiel ein Stein vom Herzen, als sie es weiß leuchten sah. Sie war nicht weit geflogen, nur zwei Meter bis zum nächsten Strandhaferbüschel, wo sie sich zwischen den Halmen verfangen hatte und sich nun, vom Wind getrieben, versuchte einen Weg durch das Gestrüpp zu bahnen. Vivienne machte drei beherzte Schritte – wieviel beweglicher ihre Beine nun waren! – und griff die Windel.
Sie hatte sie. Aber es war nun wirklich das Zeichen, dass sie zurückkehren sollte. Ohne sich noch einmal nach dem Meer umzudrehen, stieg sie von der Düne herab, hinunter in den Talkessel.
Nachdem sie auf der Scheuermanndüne gestanden und den Wind in all seiner Stärke erfahren hatte, kam ihr der Weg zurück fast einfach vor, was sicher auch daran lag, dass sie nun kein Kleidungsstück mehr trug, dass ihre Fortbewegung einschränkte. Der Wind schien noch einmal nachzulassen, als sie in den Schutz der Häuser trat. Ohne Umweg steuerte sie die rote Tür an und stemmte sie auf. Die Tür bot einen erheblichen Widerstand und für einen Monat fürchtete Vivienne, dass sie sie sich ausgesperrt hätte, aber zu ihrer riesigen Erleichterung gab sie dann doch ein wenig nach und Vivienne, schlank wie sie war, schlüpfte hindurch.
Autor: Winger (eingesandt via E-Mail)
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Ist ein echt tolles Erlebniss das Du da beschrieben hast! Spannend in allen Vasetten der Erzählung. Freu mich schon auf den nächsten Teil.
Vielen Dank!
Tattoo, meine schöne Geschichte
Hab noch eine Idee für dich Deine Entscheidung
Hipp Wundschutzcreme an Vivienne Po
ein schöne Geschichte
Hab noch eine Idee für dich Deine Entscheidung
Hipp Wundschutzcreme an Vivienne Po
Vivienne als erwachsenes Kleinkind
Dann lass dich mal überraschen, ob das kommt 😉
In der Zwischenzeit: In meiner anderen Geschichte, „Donnerstag“ ( https://www.windelgeschichten.org/donnerstag/ ) wird auch eingecremt.