Zweite Chance (1) – Kapitel 3
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Kapitel 3 – Der doppelte Sohn
Giacomo sitzt immer noch an die Posterwand gelehnt auf dem Boden, sein Po ist immer noch gepolstert. Allerdings hat er seine Knie nun zu seinem Bauch angezogen, das rechte Ellenbogengelenk auf sein rechtes Knie gestützt, und den Kopf auf seine rechte Hand. Mit der linken Hand trommelt er auf der Pullup-Vorderseite rum. Er schweigt. Ich auch, nur mit dem Unterschied, dass ich weiß, was in mir vorgeht.
Schweigen, die Zeit scheint still zu stehen, es wäre der perfekte Moment für einen Timefreeze-Steadycam-Shot, meine Position mitten im Raum würde dies noch weiter begünstigen. Nun löse ich mich von meiner Denkerstarre, und setze mich neben Giacomo an die Wand. Meine Beine ebenfalls angewinkelt, nach kurzem Zögern stütze ich meinen Kopf auf meinen rechten Arm.
„Willst du jetzt auf deiner Windel rumtrommeln?“ höre ich von Giacomo. Ich werfe einen Blick auf ihn. Ein leichtes Lächeln ist zu erkennen, Giacomos Augen sind allerdings leicht feucht, und er starrt auf einen imaginären Punkt vor seinen Füßen.
„Hm, deine Freunde sind mittlerweile 17 oder 16, ja … zu den meisten von damals habe ich fast keinen Kontakt mehr, aber Karl, weißt du, Karl ist eigentlich immer noch so dickköpfig und unreif wie früher …“ Ich werde unterbrochen.
„Cooool! Nein, wobei, eigentlich nicht, das ist voll nervig. Aber trotzdem, meinst du, er würde mit mir befreundet sein?“ Langsam beginnt ein Gespräch.
„Wenn du ihm sagst, dass du ich aus der Vergangenheit bist und er dir das glaubt, dann bestimmt. Wobei ich das fast noch bezweifle“ antworte ich beschwichtigend, verschweige dabei aber wissentlich dass Karl schon in wenigen Tagen sein Abitur machen wird. Das nimmt sogar mich mit. Vor kurzer Zeit haben wir noch Spielzeugautos gegen die Wand im Flur gecrasht, und nun macht der erste von uns Abitur. Älter werden geht doch so schnell. So viele Veränderungen in so wenig Zeit, so viel Druck, in wenigen Jahren einen Beruf auszuführen, und das am besten noch möglichst erfolgreich auf möglichst internationaler Ebene.
„Aber weißt du, das hier und jetzt, also, wie du es nennen würdest, die Zukunft, sie hat auch ihre Vorteile.“ Ich mache eine Kunstpause, drehe meinen Kopf nach links zu Giacomo welchen ich instinktiv schon beginne als kleinen Bruder anzusehen, und führe meine Ausführungen mit der Zuhilfenahme von Gesten, durchgeführt von der nicht durchs Abstützen belegten linken Hand fort.
„Jonas Liebenstein kann dir beispielsweise Garnichts mehr. Und auch alle anderen, die dich damals so sehr gemobbt haben. Du hast es so schwer gehabt dein ganzes Leben, ich muss das ja wissen, vielleicht könnte ich, könnten wir das mit vereinten Kräften ändern. Du musst nicht mit dem Vermerk „unbeliebt“ in Stein gemeißelt sein, und du musst auch nicht der Große im Haus sein.“ Es scheint mir, als wären feuchte Augen ansteckend, immerhin bekomme ich gerade auch welche.
Giacomo legt seinen Kopf gegen mein linkes Knie, er sagt nichts, muss er auch nicht. Allerdings fängt er an, unregelmäßig und schwer zu atmen. Zuerst ignoriere ich das, und denke weiter an die Vergangenheit. Jonas, wie ich ihn gehasst habe. Vor ein paar Jahren habe ich ihn, nachdem wir uns jahrelang nicht gesehen haben, nach einem Schneeballwurf auf den Boden geworfen, das war unsere letzte Begegnung, damals hatte ich mich abreagiert. Aber der Gedanke an den kleinen Giacomo, welcher, wo er nunmehr neben mir hockt und ein bisher nichtgefühltes Bedürfnis des Beschützens in mir auslöst, lässt so Manches in meiner Vergangenheit erlebte wieder aufkochen.
Er atmet immer noch schwer, weshalb ich beginne mir Sorgen zu machen, denn das kann ich gut. Ist das eine Zeitreisenkrankheit? Liegt er womöglich im Sterben? Ist es ein schwerer Fall von Zeitdiarrhö, wie in „Goodbye Deponia“ beschrieben? Vor ein paar Jahren, ich glaube mit 14, habe ich einmal hyperventiliert. Ich hatte das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen, mein Asthma begünstigte das nicht gerade. „Giacomo, ist Alles in Ordnung bei dir?“ frage ich nun doch.
„Ja“ kommt als knappe Antwort leise zurück. Ein fast unhörbares leises Stöhnen kommt hinterher, dann spricht er weiter. „Was ist los mit dir? Du guckst so komisch! Als wäre ich ein Vampir oder so!“
„Was machst du? Du hast dich angehört, als … als würdest du nicht mehr wissen, wie man atmet oder so“, erwidere ich dem nun wieder putzmunteren und aufgeweckten Giacomo. Der drückt zwei Finger in die Vorderseite des Pullups. Ein Blick in sein Gesicht zeigt ein beruhigtes Grinsen, so als hätte man bemerkt, dass die Ferien nicht schon morgen sondern erst in drei Tagen aufhören, so als wäre der Lehrer durch die Reihen gegangen beim Hausaufgabenkontrollieren, und hätte einen übersehen.
„Ahhhhhhhhhhhh!“ bringt Giacomo entspannt aus sich heraus. „Ich hab mir in die Windel gepinkelt!“ Er streckt die Beine von sich weg, breitet sie aus und legt seine linke Hand wieder vorne auf seinen Schritt. Mit der anderen fährt er in seine Hose rein, und überprüft, ob alles trocken ist. Da kann man sich nie sicher sein, vor allem am Anfang. Immerhin hat man sich grade erleichtert, und ist nur gewohnt, dass das alles nun irgendwo hinfließt. Die Vorstellung, es sei nun komprimiert auf wenige Zentimeter unter der Hose wirkt da sehr fern.
„Das fühlt sich jetzt cool an! So schön waaarm! Und weicher! Und nass! Wie eine warme Dusche da unten!“ er zieht die rechte Hand wieder aus seiner Hose heraus, und schaut sich danach kurz seine Finger an. Keine Spuren von Nässe erkennbar. „Und das ist wirklich alles trocken geblieben! Glaubt man gar nicht! Und dann ist das auch noch so unsichtbar, niemand würde bemerken, dass ich mir grade in die Hose gemacht habe!“
„Naja, stimmt. Man würde eher vermuten, dass du grade dabei bist, zu ersticken!“ Sage ich, grinsend und zu Scherzen aufgelegt. „Das musst du wohl noch üben!“ füge ich hinzu und grinse dabei.
„Üben? Kriege ich jetzt Windelhausaufgaben? Bis morgen fünfmal lautlos in die Windel pinkeln, zweimal davon während eines Handstands?“ Gibt er schnippisch zurück und streckt mir anschließend grinsend die Zunge heraus. Ich antworte ihm mit einem Haarewuschler, woraufhin er die Konversation wieder mit deutscher Hochsprache versucht fortzuführen.
„Eeeey, du ruinierst meine Frisur!“ gibt er dabei von sich, und schaut mich übertrieben grimmig an. Ich kann nicht anders, und fange an zu kichern.
„Du brauchst noch eine Kriegsbemalung, Kleiner. Außerdem ist das keine Frisur, das sind zufällig liegende Haare auf deinem Kopf“, gebe ich ihm zurück, woraufhin er mit dem Körper nach unten Richtung Boden rutscht und die Arme verschränkt.
„Gar nicht, das ist voll in! Genau wie kleine Bäuche!“ Gibt er daraufhin zurück und schaut nach rechts zu mir.
„Na warte!“ rufe ich, etwas lauter, drehe mich plötzlich nach links, und fange an, Giacomo durch zu kitzeln. Dieser versucht prompt, sich zu wehren, hat aber gegen mich keine große Chance, weshalb er beginnt, es mit anderen Druckmitteln zu versuchen.
„Auf … Aufhören!“ Er wird durch sein eigenes Gekicher unterbrochen. „Sonst mach ich mir noch in die Hose!“
„Ha, ha!“ kommt von mir nur grinsend zurück. Kurz bevor ich dabei bin, Giacomo ohnmächtig zu kitzeln, klingelt es an der Türe.
Ich lasse los, Giacomo liegt nun auf dem Boden und streckt alle Viere von sich. „Puuh!“ kommt aus ihm heraus, kurz darauf rappelt er sich auf. Er rennt zum Türöffner, was mir die Gelegenheit gibt, meine Haare und Kleidung zurechtzurücken und meiner Mutter die Wohnungstür zu öffnen. Giacomo drückt den Türöffner, bleibt anschließend am Ende des Flures an der Wohnzimmertüre stehen und setzt sich auf den Teppich vor dem Telefon. „Hallooooo Mama!“ begrüße ich meine Mutter. „Was würdest du sagen, wenn ich mich vermehrt hätte?“ füge ich der Begrüßung hinzu.
„Du hast was? Jetzt sag mir, dass das ein schl …“ Nicht nur der elfjährige Giacomo unterbricht gern Sätze, der Siebzehneindreivierteljährige macht das genauso gerne.
„Nein, oh Gott nein, nicht so.“ Ich stocke. Über diese Erklärung hätte ich mir vorher Gedanken machen sollen. „Also, stell dir vor, durch einen seltsamen Bug im Raum-Zeit-Kontinuum bin ich auf einmal zweifach vorhanden.“ Ich mache eine Pause, welche meine Mutter als Aufforderung, zu antworten, ansieht.
„Oh Gott Nein! Einer von der Sorte reicht mir völlig!“ Ich hoffe, Giacomo nimmt das nun nicht persönlich. „Wobei du früher ja ganz lieb und nett warst …“ fügt sie allerdings hinzu. Na jetzt kann sie aber hoffen, dass ich das nicht persönlich nehme. Allerdings scheint das nun Giacomo als Anlass zu nehmen, sich vor meiner Mutter zu zeigen. Er geht langsam auf sie zu, und ist sichtbar um Coolness bemüht.
„Das freut mich zu hören.“ Nun stehe ich als Beobachter an der Seite, und belasse es dabei, das Geschehen rein passiv mitzuerleben.
„Na, wer bist du denn?“, fragt meine Mutter daraufhin. Sie ist Grundschullehrerin, und das merkt man auch.
„Ich bin Giacomo. Also nicht irgendein Giacomo. Ich bin dein Sohn. Also auch. Der da auch.“ Er zeigt auf mich.
„Nein, du bist doch nicht mein … Das wüsste ich doch … Giacomo! Giacomo, das ist Giacomo!“ Meine Mutter begreift erstaunlich schnell, was hier Sache ist, so scheint es mir. „Wie kann das sein, Giacomo? Du bist mein kleiner Giacomo, eine Mutter erkennt ja, wenn ihr Sohn vor ihr steht, aber das da“, sie zeigt auf mich, „ist auch mein Giacomo!“
„Ja, Mama. Das ist Giacomo. Also Giacomo Nummer 2. Oder Nummer 1, je nachdem wie rum man es sieht. Ich war auf Toilette, und danach war er in meinem Zimmer. Ich habe keine Ahnung, wie er hergekommen ist, er selbst auch nicht. Allerdings dachte er, also ich vor sieben Jahren, also, na du weißt schon, dachte er, wir hätten das Jahr 2007. Aber er weiß auch nicht, wie er wieder zurückkommt, und wenn ich ehrlich bin, will ich auch nicht, dass er zurückgeht. Ich schlage vor, wir adoptieren ihn! Also wir müssen davor natürlich mit irgendeiner Behörde seine Existenz abklären, immerhin können wir ihn schlecht adoptieren wenn er nicht existiert. Aber weißt du, wer für so etwas zust …“ Ich werde unterbrochen. Zur Abwechslung aber nicht von Giacomo, sondern von meiner Mutter.
„Giacomo, du redest wie ein Wasserfall!“ entgegnet sie mir daraufhin. Giacomo sieht die Erwähnung seines Namens als Herausforderung und wirft ein: „Tue ich garnicht! Ich bin doch still!“
Das lockerte die Stimmung etwas auf, meine Mutter wirkt aber immer noch reichlich verwirrt. Meine Mutter ist recht langsam, nicht dass sie unintelligent wäre, aber sie ist wirklich recht langsam, was in starkem Kontrast zu meiner aufgedrehten Natur steht, für die eigentlich nichts zu schnell gehen kann.
„Kommt doch mal mit in die Küche“, fordert sie uns auf, Giacomo folgt ihr bereitwillig, ich folge. Giacomo setzt sich an den Küchentisch, auf meinen Stuhl an der Heizung. Ich nehme auf dem mittleren Stuhl Platz, und flüstere ihm „Mein Stuhl!“ zu. Er quittiert meine Ausage mit dem Herausstrecken seiner Zunge. Eigentlich wäre ich nun wieder damit dran, ihm durch die Haare zu wuscheln.
„Mein Gott, du bist wirklich mein kleiner Giaci!“ ruft meine Mutter nun im helleren Küchenlicht aus. „darf ich dich mal drücken?“ Als Antwort steht Giaci auf, und knuddelt meine Mutter. „Ich hab Hunger.“ Fügt er anschließend noch herausfordernd hinzu. Meine Mutter lässt ihn nicht los. „Mama! Ich mag dich ja auch sehr, aber übertreib doch nicht sooo!“ Ja, was das angeht kann ich ihn da wirklich verstehen. Giacomo wird wieder losgelassen.
„Na, Giacomo, also Großer, Nummer 1, oder wie auch immer ich dich nennen soll, da hast du ja nun den kleinen Bruder, den du dir immer gewünscht hast.“
Ich versuche meiner Mutter zu signalisieren, dass sie so etwas doch bitte nicht offen sagen soll, dann dringt aber in mein Bewusstsein, dass der Kleine ja Ich ist. Er weiß es sowieso schon längst. Genau wie die Tatsache, dass ich ihn in dem Pullup megaknuffig finde. Ob er meine Gedanken lesen kann? Ob ich seine Gedanken lesen kann? Giacomo dreht sich zum Regal über der Heizung und kramt im Zeitschriftenstapel.
„Hast du die MMMs noch?“ Fragt er mich, während er weitersucht. MMMs, Mickymaus-Magazine. Ich liebe es ja, beim Essen zu lesen, das Essen ist sonst so eine langweilige Zeit. Früher habe ich oft Comics gelesen, mit elf bin ich dann irgendwann umgestiegen auf Computerzeitschriften. Angefangen mit der Computerbild, gelandet bin ich mittlerweile aber bei der c’t und bei iX. Ich habe mich schon immer für Technik begeistern lassen. Vor allem für Lautsprecher, Möglichst groß und professionell, oder für Computer – Möglichst groß und professionell.
„Hm, ja, aber bis ich die jetzt gefunden hab … Aber da liegt ja ein Stapel Computerzeitschriften. Du kannst dir ja mal anschauen, was sich seit Nullsieben so verändert hat. Da gibt es in der Technikwelt schon eine Menge. Der irrsinnige Hype um die Cloud, Smartphones, Windows 8 …“ Das reichte als Ansporn.
Giacomo schlägt das oberste Heft auf. „Die c’t ist aber recht kompliziert, ich erinnere mich daran, dass ich von der mit zwölf mal Kopfschmerzen bekommen habe, aber hey, ich kann dir ja alles erklären“, sage ich in aufmunterndem Ton, rücke mit dem Stuhl zu Giacomo hin. Der drückt mit seiner linken Hand immer noch am Vorderteil der Windel herum.
Autor: giaci9 (eingesandt via E-Mail)
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Klasse geschrieben top… Da stehen die Windeln nicht so im Vordergrund sondern mehr die Story.
Ich muss Anonym vollkommen zustimmen, das gefällt mir auch sehr. Was mich in diesem Kapitel ein wenig überrumpelt hat war, dass die Mutter Giacomo 2.0 so plötzlich aufgenommen hat und sagt: „Da, dein Bruder.“ Trotz allem wieder schön geschrieben.