Zweite Chance (1) – Kapitel 5
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Kapitel 5 – Vierviertelhose
Giacomo grinst verlegen, dreht sich dann zu mir, und schaut mich vielsagend an.
„Sie weiß es, Giacomo.“ Giacomos Mund klappt herunter. „Also dass ich Windeln ziemlich gern habe, und wenn sie jetzt ein wenig kombiniert, wird sie zu dem Entschluss kommen, dass du Windeln auch ziemlich gern hast.“ Giacomo atmet erleichtert aus, wirkt aber trotzdem noch so als wäre ihm das Thema nicht unpeinlich.
„Achso, und jetzt hast du eine Windel an?“ Schlussfolgert meine Mutter erfolgreich, woraufhin sie von Giacomo ein Nicken erhält. „Da musst du dich nicht für schämen, es ist ja nichts Schlimmes dabei, wenn du ab und zu mal eine Windel trägst, Giacomo darf das ja auch.“ Dieses Thema ist nun mir nicht unpeinlich.
„Ja, aber … Wenn jetzt …“ Giaci scheint aber noch etwas auf dem Herzen zu haben: „Wenn ich jetzt nicht nur ab und zu mal eine Windel tragen würde, sondern …“ Er schaut auf seine Füße, und spielt mit seiner rechten Hand in seinen Haaren rum: „immer? Tschuldigung wenn ich das jetzt so direkt frage, aber die sind so toll!“
Das war nun eine Überraschung, selbst für mich, wo ich mich doch eigentlich recht gut verstehen sollte. Eine Windel ab und zu, auch zwei hintereinander finde ich wirklich toll, aber immer? Das passt für mich nicht immer zu meiner Persönlichkeit. Auf der anderen Seite, wenn ich wieder ein Kind wäre hätte ich vor, genau das zu tun.
Meine Mutter scheint weniger überrascht zu sein als ich, ihr Blick scheint Verständnis zu zeigen: „Naja“, im Gegensatz zu mir und Giacomo spricht sie recht langsam: „Bei der ganzen Veränderung seit heute Nachmittag und auch bei dem, was du in den letzten Jahren durchmachen konntest, ich glaube, den Wunsch kann ich nachvollziehen.“ Schmunzelnd fügt sie noch hinzu: „Und Giacomo bestimmt auch! Aber wie wir das lösen, vor allem auch in der Schule, da müssen wir uns wohl noch Gedanken zu machen. Und überhaupt, aber ich glaube, das ist kein Stoff mehr für diesen Abend.“
„Daaaaaaanke!“ Giacomo springt auf, und umarmt meine Mutter. Ich schaue auf mein Handy und lese mir die neuesten Nachrichten durch, ich weiß nicht ganz, wie ich mit dieser Sentimentalität umgehen soll.
„Wieviel Uhr ist es?“ werde ich dabei von meiner Mutter gefragt, nach einem Blick in die linke obere Ecke des Touchscreens antworte ich ihr: „zehn vor elf“.
„Giacomo, du musst aber schleunigst ins Bett!“ Meiner Mutter scheint es nicht schwer zu fallen, sich um den elfjährigen Giacomo zu kümmern.
„Och nöööö, jetzt schon? Es sind doch Ferien!“ Giacomo scheint das nicht zu gefallen, er ergibt sich aber seinem Schicksal und geht Richtung Flur. Ich schaue ihm kurz hinterher, und bekomme den Eindruck, dass seit dem Hochholen des Gästebettes nochmal ein bisschen in den Pullup gelaufen ist, zumindest scheint er dicker geworden zu sein.
Das scheint auch meiner Mutter aufgefallen zu sein: „Sagmal, wickelt er sich auch, wenn seine Windel benutzt ist? Weil die, die er jetzt anhat, scheint z…“ Gute Frage.
„Ja, also die Windeln die er jetzt anhat, das sind Pullups, die kann man einfach wie eine Unterhose ausziehen und wechseln, ich denke, das sollte kein Problem für ihn darstellen.“ Wie es dann aber weiter gehen soll, wenn er die Drynites gegen Pampers ausgetauscht hat, weiß ich auch noch nicht ganz.
„Wow, du bist ja ein richtiger Experte auf diesem Gebiet, praktisch.“ Ich nicke meiner Mutter grinsend zu, und will daraufhin aus meinem Zimmer gehen. Ich drücke die Tür auf, da fällt mir ein, dass ich mein Zimmer diese Nacht nicht für mich alleine haben werde. Giacomo liegt schon im Bett und ist sich scheinbar gerade am Umziehen: „Hast du einen Schlafanzug? Also für mich?“
„Hm, äh …“ Ich mache den Schrank auf, und meine Schrankinhaltsvorahnung bewahrheitet sich: „Ne, in deiner Größe hab ich da wirklich gar nichts schlafanzugähnliches: „Du kannst ja einfach in der Drynites und deinem Shirt schlafen, für die eine Nacht müsste das doch aushaltbar sein, oder? Du kannst ja auch die Heizung hochdrehen wenn dir zu kalt ist.“
Ich nehme mir einen Laptop aus meinem Regal, und entscheide mich, mich in die Küche zurückzuziehen, wo mein Zimmer nun anscheinend von Giacomo besetzt ist. „Gute Nacht, Kleiner!“ rufe ich beim Rausgehen noch in mein Zimmer und mache das Deckenlicht aus.
Meine Mutter geht auch ins Bett, mein Ferienbiorythmus verbietet es mir aber, noch am selben Tag ins Bett zu gehen an dem ich aufgestanden bin. Ich setze mich an den Küchentisch, schalte das Radio ein. WDR2. Laptop aufgeklappt, eingeloggt, jetzt muss ich meinen Internetkonsum nachholen, von dem Giacomo mich in den letzten Stunden sehr erfolgreich abgehalten hat. Nach dem Checken von Accounts in verschiedenen Foren und nach dem Beantworten von Nachrichten in diversen IM-Diensten gebe ich aber auf, das Internet ist einfach zu langweilig. Morgen um Elf sollen wir beim Forschungszentrum sein, meine Uhr unten rechts schlägt grade auch auf Mitternacht um, also entschließe ich mich, mich auch in mein Bett zu legen.
Als ich mein Zimmer betrete ist das Licht noch an, Giacomos Wahrnehmung aber schon aus, seine Augen verraten mir, dass er schon im Reich der Träume ist. Ob seine Träume im Jahre 2007 stattfinden? Vor ihm liegt eine offene Computerzeitschrift, mutmaßlich von dem Stapel neben meinem Regal entwendet. Ich ziehe sie vorsichtig weg, mache die Lampen über der Posterwand welche ihm als Leselicht gedient haben aus, und lasse mich selbst in mein Bett fallen.
Am Morgen wache ich auf, recht früh, ausgeschlafen dank meinem frühzeitigen ins-Bett-gehen und ohne Erinnerung an die Träume dieser Nacht. Das Bett von Giacomo ist leer, die Decke liegt unordentlich auf dem Boden. Ich ziehe den USB-Stecker von meinem Handy ab, was das Signal zum Einschalten des Sperrbildschirmes auslöst. Halb Elf, hm, da muss ich mich wohl ranhalten. Eine Dusche wäre heute mal wieder fällig, also gehe ich ins Badezimmer. Im Flur höre ich den Fernseher, vermutlich schaut Giacomo gerade. Ob er bemerkt hat, dass wir mittlerweile Kika empfangen? Mit dem alten analogen Satellitenreceiver klappte das nie, die Frequenz haben wir nie reinbekommen. Mit DVB-S war das nie ein Problem, den Receiver, den wir zeitgleich zur Abschaltung des Analogfernsehens angeschafft haben, hatte Kika schon in seiner Sendeliste. Damals war ich aber schon sechzehn, somit kam der Fernsehsender, den ich meine ganze Kindheit lang vermisst hatte, wohl zu spät für mich.
Ich steige wieder aus der Badewanne aus, föhne mir kurz die Haare und suche mir anschließend Kleidung heraus, welche noch nicht zu zerknüllt oder zu dreckig ist, um sie anzuziehen. In den Ferien Gerät mein Kleiderhaushalt häufig aus den Fugen. Ein bisschen Zeit bleibt mir noch, also mache ich mir ein Brot und gehe anschließend ins Wohnzimmer.
Giacomo kniet vor dem Wohnzimmerteppich, vor ihm steht ein Legozug, welcher bis heute Morgen wohl noch unter einem meiner Lautsprecher stand. Wäre das hier gerade ein Film, gäbe es wohl eine Rückblende zu der Bemerkung meiner Mutter gestern Abend. Der Ton wäre unterlegt mit einem markanten Halleffekt, und das komplette Bild wäre durch einen Diffusor vor der Linse leicht verwaschen. „Sagmal, wickelt er sich auch, wenn seine Windel benutzt ist?“ würde meine Mutter abermals fragen.
Offensichtlich nicht.
„Giacomo!“ Giacomo erschrickt leicht, seine Hose ist in seinem Schritt sichtbar nass. Die Ursache dieser Nässe scheint augenscheinlich sein Pullup zu sein. Deutlich ist erkennbar, dass auch Drynites entgegen meiner Erfahrungen recht stark aufquellen können bevor sie endgültig auslaufen, so sieht es jedenfalls gerade zwischen Giacomos Beinen aus. „Junge! Alter! Deine Windel! Ist dir zufällig aufg …“ Giacomo schaut zu mir hoch.
„Ja, die ist wohl ausgelaufen. Als ich heute Morgen aufgestanden bin, war noch alles normal, aber irgendwann hab ich dann bemerkt, dass meine Hose zwischen meinen Beinen nass ist, und als ich eben nochmal reingepieselt hab … naja, ist das passiert.“ Er deutet auf seine sehr nasse Hose.
„Hm, ja … aber du musst dich doch wickeln wenn du merkst, dass deine Windel ausläuft! Oder dann vielleicht auf Toilette gehen, aber doch ni…“ Giacomo scheint den Sachverhalt gänzlich anders zu sehen.
„Ja, aber ich hatte doch keine Wechselwindel!“ erklärt er mir in einem leicht aggressiven Ton, ich befürchte, er fühlt sich von mir angegriffen. Aber mich sollte er doch besser kennen! „Und ich wollte dich nicht wecken, und wusste ja auch nicht, wo du die Windeln hast“, fügt er leise noch hinzu.
„Oh …“ ich bemühe mich um einen beschwichtigenden Ton: „Da hast du wohl recht, Naja, ist ja nicht so schlimm … Äh, du gehst jetzt am besten ins Bad, duschst dich, ich hole dir eine neue Drynites, suche mal nach einer passenden Hose, und naja, lege das Wohnzimmer trocken. Aber beeil dich, wir wollten gleich losfahren.“ Ich klopfe Giacomo auf den Rücken, und signalisiere ihm durch ein Lächeln, dass ich ihm diese Aktion nicht übelnehme. Natürlich hat er aber auch wieder etwas auszusetzen.
„Neeee, du wolltest doch nach einer richtigen Windel in meiner Größe suchen!“ Achja, da war ja was.
„Oh, stimmt, wie konnte ich das vergessen! Na dann mache ich mich wohl mal auf den Weg“ sage ich, gehe schnellen Schrittes in Richtung meines Zimmers und entschließe mich zu drastischeren Maßnahmen, um die Pampers zu finden. Ich weiß, dass unter meinem Bett welche sind, aber da ist so vieles … Aus diesem Grunde nehme ich die Matratze in die Hand, hebe sie hoch und stelle sie vor die Schrankwand. Die größte Fläche unter dem Bett wird durch die drei großen Schubladen voller Lego eingenommen, welches aus gutem Grunde immer noch seinen festen Platz in meinem Zimmer hat. Am Kopf des Bettes ist dann der Windelhaufen. Die halbvolle Drynitespackung, die ich gestern wieder feinsäuberlich unter mein Bett gestopft habe, die AMD-Windelpackung, und mein alter Kuscheleisbär.
Ich stecke meine Hände durch den Lattenrost hindurch und fange an, in dem Haufen zu wühlen. Ob das wohl das Paradies für Giacomo darstellen würde? Unter dem Eisbär finde ich die gesuchte Windelpackung, mit noch sagenhaft zwei verbliebenen Pampers. Ich ziehe die obere heraus, und stelle fest, dass es sich dabei um eine meiner Testwindel handelte, ich habe die komplette Stoffoberfläche vorne abgezogen, die Klebestreifen fehlen demnach auch, die andere Windel ist aber gänzlich unbeschädigt und sogar noch in originalgefaltetem Zustand. Wieviel ich dafür wohl auf ebay bekommen würde, für eine Pampers aus dem Jahre 2012?
Die Uhr im Bad bestätigt mir, dass es fünf vor Elf ist, ich lege Giacomo die Windel auf die Fensterbank. „Du hast nicht mehr viel Zeit, komm mal raus aus der Dusche!“
„Hast du die Windel?“ Fragt er durch den gelben Duschvorhang durch, als würde er gerade um Bedingungen verhandeln, zu denen er Geiseln bei einem Bankraub freilassen würde.
„Ja, und deine Hose kommt auch gleich“, woraufhin ich das Bad auch schon wieder verlasse und in meinem Kleiderschrank rumwühle. Eine alte graue Dreiviertelhose von mir findet sich, vielleicht passt sie Giacomo ja als Vierviertelhose. Ansonsten haben wir wohl ein größeres Problem. Ich nehme die Hose in die Hand, gehe Richtung Bad, mache die Tür einen Spalt breit auf, und werfe die Hose hinein.
Ich mache die Tür zu und will mir gerade schon meine Schuhe anziehen, als ich durch die Türe Giacomo höre: „Äh, du, äh, kannst du mal grad schauen, ob das so richtig ist?“ Ich nehme an, dass er die Windel meint, rufe ein „Ok“ ins Badezimmer hinein, und gehe herein. Es ist wirklich spektakulär, wie gut die Pampers Giacomo zu passen scheint. Waren die Drynites ihm noch vielleicht leicht zu groß, so scheint diese nun fast passgenau sein, vielleicht ein bisschen klein. Allerdings sitzt sie dermaßen locker, die Klettstreifen sind am äußersten Ende der Klettstreifenzone festgemacht, so passen die fast noch mir. Aber das System der elastischen Seitenteile muss man auch erst einmal verstehen, erst recht wenn man gerade aus dem Jahre 2007 kommt.
„Naja, also richtig herum ist sie. Aber ne, die sitzt viel zu locker. Warte mal …“ Ich gehe zu Giacomo hin, halte das Vorderteil mit der einen Hand in der richtigen Position und ziehe mit der anderen Hand die beiden Klebestreifen fest.
„Ahhh, jetzt fühlt sich das auch an wie gewohnt! Die ist toll!“ Bestätigt Giacomo noch, bevor er sich einmal um die eine Achse dreht.
„Ja, das sind sie, ich weiß, vor allem wenn sie einem noch passen. Genieß es“, zwinkere ich ihm zu. Aber jetzt zieh dich mal an, wir werden gleich abgeholt.
„Wer ist Thomas überhaupt?“ fragt mich Giacomo und beginnt sich sein T-Shirt über die Arme zu streifen.
Ich versuche, es ihm möglichst schonend beizubringen: „Naja, Thomas, das ist der Freund meiner Mutter. Du weißt schon, Partner, sie sind zusa…“ Unter diesen Umständen kann ich die Unterbrechung nachvollziehen.
„WAS?“ Giacomo beugt seinen Oberkörper leicht nach vorne, und breitet die Arme aus. „Ist der jetzt mein neuer Papa, oder was???“ Nun knie ich mich wieder vor Giacomo hin, und lege meine rechte Hand auf seine rechte Schulter, vielleicht sollte ich überlegen, Seelsorger zu werden.
„Neeeein, natürlich nicht. Der ist recht selten da, meist sind der und meine, äh, unsere Mutter zusammen weg, tanzen oder so“, ich entschließe mich erst einmal, Giaci zu verschweigen, dass Thomas zwei eigene Kinder hat: „Aber jetzt zieh dich besser mal zu Ende an, die Zeit wird langsam knapp“, sage ich, und wuschle ihm ausnahmsweise mal durch die Haare ohne dass er mir vorher die Zunge herausgestreckt hat.
Ich gehe zurück in mein Zimmer, stopfe die Matratze wieder auf mein Bett, und nutze die verbleibende Zeit noch, um die Rollladen hochzuziehen. Durch Fenster sehe ich auch schon den Wagen anrollen. BMW E67, die Sonderschutzausführung der Langversion des 7er BMWs von 2005. Normale Autos fahren, aber bei so einem Wagen, ja, da spricht man von rollen, ich freue mich wirklich schon auf Giacomos Reaktion darauf. Und die Panzerung sollte auch mögliche Attentate auf den kleinen Zeitreisenden erfolgreich verhindern können.
Ich gehe schnell in den Flur, und ziehe mir meine Schuhe an. Meine Mutter öffnet Thomas die Tür, und etwa zeitgleich kommt Giacomo aus dem Badezimmer raus, die Hose reicht ihm bis über die Füße.
„Ahhh, das ist also euer kleiner Gast?“ Giacomo bemüht sich zu einem Lächeln und fügt schüchtern ein „Ja“ hinzu. Er setzt sich auf den Boden neben mich, und fängt an, sich die Schuhe anzuziehen. „Wie alt bist du denn?“ fragt ein unschlüssig mit den Händen in der Hose herumstehender Thomas den kleinen Giacomo.
„Elf, vor einem Monat geworden.“ Ratsch, ratsch, Giacomo macht die Klettverschlüsse seiner Kangaroos zu. Giacomo steht auf, die Hose hängt ihm unter den Schuhen. „Warte mal“, instruiere ich Giacomo, nehme beide Hände, und kremple Giacomo die Hose etwas hoch. Nun ist sie zwar immer noch etwas schlabbrig und breit, im Großen und Ganzen aber recht akzeptabel. „Komm!“
Thomas entschließt sich, Giacomo eine weitere Frage zu stellen: „Sekunde, wie heißt du eigentlich?“. Giacomo stockt kurz, sein Blick wandert kurz zu meiner Mutter, danach antwortet er: „Felix!“
Glücklicherweise ist die Aufmerksamkeit Aller gerade auf Giacomo gerichtet und nicht auf mich, sonst hätte man das Erstaunen oder Erschrecken wohl eindeutig in meinem Blick gesehen. Wie hat sich Giacomo genannt? Felix? Felix war mein imaginärer kleiner Bruder, den ich als Kind hatte, bis ich irgendwann in die Pubertät kam. Irgendwann bin ich dann dazu übergegangen, nicht mehr einen kleinen Bruder haben zu wollen, sondern selbst der Kleine zu sein. Felix war in meinem Kopf immer der Kleine, Schutzbedürftige, und Giacomo scheint sich damit identifizieren zu können, was mich zugegebenermaßen überrascht. Wenn ich mir je einen Namen für mich aussuchen können würde, als Kind hatte ich eigentlich immer vor „Julian“ zu wählen, die Hauptfigur der Fünf Freunde. Mittlerweile würde ich wohl bei „Giacomo“ bleiben, denn diese Vor- und Nachnamenkombination ist wohl ziemlich einzigartig. Ganz im Gegensatz zu mir wirkte meine Mutter hingegen überhaupt nicht überrascht, dass Giacomo sich nicht mit „Giacomo“ sondern mit „Felix“ zu erkennen gab. Ich hatte mir schon Sorgen gemacht, wie Thomas wohl auf den Umstand der zwei Giacomos reagieren würde, ihm zu erklären, dass es sich bei Giaci um einen Zeitreisenden handelt, wollte ich nur zu gern vermeiden. Giacomo scheint sich darüber aber schon selbst, vermutlich zusammen mit meiner Mutter, Gedanken drüber gemacht zu haben.
Auf dem Weg Richtung Flur schlägt Giacomos unfassbare Neugier wieder seine Schüchternheit: „Welches Auto hast du denn, Thomas?“ Auch wenn ich Thomas häufig noch sieze, hat Giacomo das Du wohl schon angenommen. „Einen BMW.“ Lautet die knappe Antwort. Wir erreichen den Parkplatz vor dem Haus, der BMW parkt nicht nur auf dem Parkplatz, sondern nutzt zusätzlich noch den Bürgersteig. Thomas nutzt immer zusätzlich zum Parkplatz noch den Bürgersteig, seit ich einmal das Garagentor gegen die Motorhaube gedonnert habe, weil ich nicht wusste, dass davor das Auto steht. Aber wofür ist denn die Panzerung da, um nicht Garagentore abzuwehren?
„Coooooooooooool!“ Das war Giacomo. „Jaaaa!“ Das war ich. Giacomo rennt zum Auto, und stellt sich an die hintere rechte Türe, woraufhin ich mich entschließe, die linke zu wählen. Die Materialforschung von Procter&Gamble hat sich bezahlt gemacht, unter der weiten Hose kann man nicht einmal erahnen, dass Giacomo darunter eine Windel trägt. Die Blinker blinken zweimal kurz auf, ein Geräusch ertönt, die Türen sind entriegelt. Giacomo macht die Türe auf, wird aber von Thomas ausgebremst. „Warte mal kurz …“ er beugt sich an Giacomo vorbei, und fährt den Kindersitz auf der Rückbank aus. Praktisch.
Ich setze mich auf den anderen Platz, und mache es mir bequem. Ich glaube, ich bin noch nie mit diesem Auto gefahren, normalerweise bevorzuge ich ja das Fahrrad weil ich damit unabhängiger bin, aber nun merke ich, was ich alles verpasst habe. Meine Beine sind ja recht kurz, aber in dieser Limousine fühlt man sich noch kleiner. Wenn ich die Beine ausstrecke, erreiche ich knapp den Fahrersitz. Giacomo kommt aus dem Schwärmen ebenfalls nicht mehr heraus, was Thomas dazu animiert, ihm den BMW als Spielzeugauto zu schenken. „Hast du die eigentlich auf Vorrat in deinem Kofferraum?“ kommentiere ich das plötzliche Auftauchen des Modelles. „Ach, du bist ja nur neidisch!“ lacht mich Giacomo an. Thomas langt daraufhin ins Handschuhfach und zaubert einen zweiten schwarzen BMW heraus. „Hier, willst du?“ Daraufhin lacht er ironisch. Ich lehne mich wieder zurück, aber Giacomo greift den zweiten BMW, lehnt sich so weit zu mir wie es die Mittelkonsole erlaubt, und drückt mir den BMW in die Hand: „Hier, nimm doch, der ist cool!“ versucht er mich zu überzeugen. Ich nehme ihn in die Hand und rolle ihn auf der Mittelkonsole probe. „Stimmt, ja, das Rollverhalten ist exzellent!“
Daraufhin schaltet sich meine Mutter ein, und fragt überbetont: „Und was sagt man dann, Giacomo?“ Als Antwort hört sie zwei „Dankeee!“, synchron von mir und dem anderen Giacomo. So ganz an seine Namensumstellung gewöhnt zu haben, scheint sich Giacomo wohl noch auch noch nicht, mir geht es auch nicht anders, in meinen Gedanken heißt er immer noch Giacomo. Aber wäre es meinen Freunden erklärbar, dass dieser kleine Typ da, der aussieht wie ich als Kind auch noch Giacomo heißt? Zumindest wäre das im Alltag wohl recht unpraktisch. Man hätte es vielleicht wie in amerikanischen Serien lösen können, der einen heißt „Giacomo Junior“, und der andere „Giacomo Senior“. Gegen einen Senior-Titel hätte ich bestimmt nichts einzuwenden. Andererseits, Felix ist wirklich ein schöner Name, und wenn ich Giacomo nur halb so glücklich hinbekomme wie Felix, dann bin ich für mein Leben wohl schon halberfüllt.
Giacomo nimmt sich seinen kleinen BMW, zieht die Plastikglashülle ab, und entfernt den Sockel vom Auto. Danach fährt er mit dem Auto auf der Mittelkonsole rum, und nutzt dann den oberen Bereich mit den Becherhaltern als Parkplatz. Ich schaue ihm zu, und fange schnell an, es ihm gleichzutun. Wir fangen leise an, miteinander zu reden: „Was machen die jetzt da eigentlich mit mir?“
„Naja, weißt du, mit Zeitreisenden habe ich noch nicht gerade viel Erfahrung, ich denke, das werden wir heute noch herausfinden. Aber keine Angst, es wird nicht wehtun, und wir sind spätestens heute Abend wieder Zuhause. Versprochen!“ Giacomos Sorgen scheinen nicht verflogen zu sein. „Ähm, Giaci, was war das eigentlich mit dem Felix eben?“ Giacomos Augen drehen sich in Richtung des Modellautos: „Hm? Naja, meine Mutter meinte, dass sie Thomas erzählt hat, dass ich dein Halbbruder bin. Sie hat gedacht, dass er das eh nicht glaubt, und dann hat sie das erfunden. Allerdings meinte sie, ich sollte mir einen anderen Namen als „Giacomo“ nehmen, ist ja auch voll logisch.“ Meine Stimme wird noch ein bisschen leiser: „Naja, wir wissen ja beide, wer Felix ist. Willst du jetzt zu Felix werden? Sicher? Wieso hast du nicht gesagt, dass du Julian heißt?“
Giacomo blickt mir kurz in die Augen, schiebt danach aber wieder planlos das Auto auf und ab: „Hm, ich hatte auch erst überlegt, ihr zu sagen, dass sie mich Julian nennen soll. Aber ich will irgendwie noch nicht Julian sein. Du hast mir ja gestern erklärt, dass ich nicht unbedingt der Große sein muss und mir alles selbst beibringen muss und dass du mich beschützt. Und irgendwie hab ich dann überlegt, dass ich vielleicht irgendwie noch gar nicht groß sein will …“ Ich entscheide mich, Felix Satz zu Ende zu führen: „…Und dass du auch gar nicht groß sein musst?“ Ich weiß nicht, ob ich das gut finden soll. Bei mir verhält es sich ja nicht gerade anders, aber ist es für die Entwicklung eines Kindes nicht notwendig, dass es groß sein will, sich für reifer, älter und cooler einschätzt als es ist? Ich muss da wohl noch einige Studien an meinem Beobachtungssubjekt Giacomo durchführen. Oder sollte ich ihn nun als Felix ansehen?
An meinem Fenster sehe ich den Haltepunkt „Forschungszentrum“ an uns vorbeifahren, in wenigen Minuten werden wir durch den großen Kreisverkehr fahren, und am Einlass halten. Thomas biegt nach links ein auf die auf unserer Seite zweispurige Kraftfahrzeugstraße, welche den Zufahrtsweg zum Haupttor darstellt, ein paar Sekunden später halten wir auch schon vor der Schranke. Ich lasse mein Fondfenster in bester Gangsterbossmanier herunter: „Guten Tag, wir haben einen Termin um viertel nach Zwölf, bei Komplex 16.4.“ „Ah, dann brauche ich nur noch ihren Namen?“ Das Empfangspersonal des Forschungszentrums ist für eine grenzenartige Einlasskontrolle mit Schlagbaum und Wachdienst ungewohnt freundlich.
„Giacomo Müller.“ Mein Vorname sorgt häufig für Schwierigkeiten, das Problem dürfte Giaci wohl nicht haben, wenn er wirklich beim Namen Felix bleiben will: „Könnten sie das bitte buchstabieren?“
„Golf, India, Alpha, Charlie, Oskar, Mike, Oskar.“ Wer hätte gedacht, dass mir Shooterspiele das Nato-Alphabet lehren würden? Wenn es in der Ukraine so weiter geht wie bisher, dürfte das in Zukunft sicherlich nützlich sein. „Ah, da sind sie ja! Sie können durch, schönen Tag noch!“ Ich antworte mit „Gleichfalls!“, der Schlagbaum fährt hoch und klappt sich zusammen, ich lasse das Fenster wieder hochfahren. Gesiezt zu werden ist für mich noch recht ungewöhnlich, obwohl ich mich manchmal darüber freue, immerhin ist es ein Zeichen von Respekt.
Meine Mutter faltet den Plan des „Info-Leit-Systems“ auseinander, und lotst Thomas durch das Straßengewirr des Jülicher Forschungszentrums.
Autor: giaci9 (eingesandt via E-Mail)
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