Zweite Chance (1) – Kapitel 7
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Kapitel 7 – Kinderkleidungskomplettpaketkauf
„Ähm“ Ich weiß, wie ich in solchen Situationen reagiere: „Schau mal da, ein Eichhörnchen!“ Sage ich, und deute wahllos in den Raum. Ein Freund hat sein iPad, besser gesagt dem interaktiven Sprachassistenten von diesem vor einiger Zeit gefragt, ob sie heiraten sollen, Er und sein iPad. Die Antwort war identisch mit meinem Ablenkungsmanöver gegenüber Giacomo. Der kennt mich aber leider zu gut, und hat mich schon durchschaut: „Nicht ablenken, ich weiß, dass du auch eine willst!“
„Ja, aber ich bin viel zu cool dafür!“ gebe ich in entschlossenem, aber nicht ernst gemeintem Ton zurück.
„Tja …“ Giacomo schaut in meinen Schritt: „Dazu passt der Fleck auf deiner Hose aber leider garnicht“, sagt er, zeigt auf meine Hose, und spricht in einem bedauernden Ton, der trotzdem recht frech klingt. Womöglich werde ich jetzt rot, vielleicht kriegt mein Gesicht nun aber auch nur ein wenig Farbe, und ist nicht wie sonst so blass. Ich neige meinen Kopf nach unten, und stelle fest, meine Hose ist trocken. Natürlich ist meine Hose trocken, ich mache mir normalerweise nicht einfach so in die Hose. Nicht mehr.
„Ha ha ha, ich hätts dir fast geglaubt! Püh, nicht mal mehr auf sich selbst kann man sich mehr verlassen heut zu Tage!“ ich gehe aus der Umkleidekabine, in deren Eingang ich nun mehrere Minuten stand, um Giacomo eine neue Hose zum Anprobieren zu geben, wieder heraus, und setzte mich auf einen der Wartestühle.
Kurz darauf fordert Giacomo erneut meine Meinung als angeblich modeerfahrenen Sachverständigen ein, gibt sich mit der Aussage, dass die Hose gut aussieht und man die Windel nicht erkennen kann, zufrieden und bekommt anschließend das nächste Kleidungsstück gereicht. So leert sich der gigantische Klamottenstapel immer weiter wobei allerdings auch die Zeit auf dem Sperrbildschirm meines Handys immer weiter läuft. Nach mehr als einer halben Stunde kommt meine Mutter wieder mit Thomas zurück, ohne, das ersichtlich ist, dass sie irgendetwas für sich gekauft hätten, dafür allerdings mit einer Jacke in der Hand, wetterfest und wasserabweisend, bei welcher ich mir nicht sicher bin, ob sie denn im Kaufhof gekauft wurde.
„Und?“ fragt Giacomo mich nur noch, die Anprobierprozedur ist mittlerweile komplett durchoptimiert, das einzige was nun zur weiteren Effizienzmaximierung noch fehlt, ist eine einheitliche Beurteilungsskala. Giacomo steht in einem Schlafanzug vor mir. Recht eng, türkisblau, mit Bärchenaufdruck. „Was! Wo …“ ich schaue entsetzt: „Wo kommt der her!“
„Na, den hat mir doch Mama geholt!“ Ich schaue entsetzt zu meiner Mutter, neben welcher Thomas steht, und verwirrt zu meiner Mutter sieht. Giacomo hat sie grade Mama genannt, dabei passt das ja nicht so ganz zu dem, was meine Mutter gegenüber Thomas als Grund für Giacomos plötzliches Auftauchen in ihrem Leben angeben hat. Lügen in der Beziehung, ob das gut geht? „Mama! Er ist elf und nicht sechs!“ Die Ausbeulung, welche durch die Windel unter der Hose verursacht wird, und welche nun sicherlich auch Thomas sieht, passt aber ebenfalls besser zu einem Sechsjährigen. Ich breite meine Arme aus und strecke sie leicht nach oben, als Halbitaliener kann ich gar nicht anders, als beim Reden zu gestikulieren.
„Achwas, der ist doch süß!“ gibt meine Mutter daraufhin entschlossen zurück, wieder einmal bemerkt man die Grundschullehrerin in ihr: „Felix, was meinst du denn dazu?“ Sie schaut zu Giaci, welchem recht schnell klar wird, dass er gemeint ist. Scheinbar bin ich der einzige, der sich an diesen Namen gewöhnen muss.
„Hm. Ne, der ist cool! Ooooder?“ Er stockt, und schaut an sich runter: „Ne, den sieht ja niemand. Und der ist schön weich!“
„Gibt es auch harte Schlafanzüge? So Panzer-Schlafanzüge für den gesunden Tiefschlaf im Schüzengraben?“ antworte ich daraufhin um überhaupt etwas zu antworten, und setze mich dann wieder hin. Ja, meine Mutter hat schon Recht, der Schlafanzug sieht recht knuffig aus, die Windel wird offensichtlich auch gut in Position gehalten, Andererseits sollte Giacomo, respektive Felix, sich wirklich mit diesem Kleinkinderschlafanzug nicht auf einer eventuellen Übernachtungsgeburtstagsparty eines Klassenkameraden blicken lassen.
Giacomo hat den Vorhang mittlerweile wieder zugezogen, den Schlafanzug ausgezogen, ich schaue ohne Aufgabe in die Gegend und meine Mutter unterhält sich leise mit Thomas. Ich verstehe den Inhalt des Gespräches nicht, wenn ich eine Vermutung abgeben müsste, würde ich allerdings auf die Ausbeulung unter Giacomos Pyjama tippen.
Auch wenn das Finden der Kleidung innerhalb von wenigen Minuten erledigt war, das Anprobieren zieht sich wirklich hin, mittlerweile sind wir schon etwa eine Stunde im Kaufhof, der Stapel ist nun aber auch fast aufgearbeitet, der Stapel der zu großen und zu kleinen Kleidungsstücke aber hingegen auf eine beträchtliche Größe angewachsen. Ich werfe ihm ein Hemd zu, passend zu der dunkelblauen Stoffhose, ausgesucht von Thomas, damit ist Giaco wohl auch kompatibel zu förmlicheren Anlässen, zumindest äußerlich.
Die erste Kleidungsanprobierrunde geht mit einem Packen Unterhosen zu Ende, während Giacomo eine davon zwecks Größenüberprüfung anprobiert macht sich sein Beraterstab bestehend aus mir, Thomas und meiner Mutter, selbstständig, und sucht kleinere Größen für die überwiegend zu groß ausgesuchten Hosen und Tshirts. Einen Kleiderschrank baut man sich gewöhnlich über einen Zeitraum auf, genau wie ein Zimmer oder eine Identität, Giacomo wird das alles aber wohl im Schnelldurchlauf erledigen müssen. Entsprechend im Schnelldurchlauf führen wir dann auch den Kleidungsaustausch und die anschließende Anprobe durch.
Nach einer weiteren Viertelstunde reißt Giacomo den Vorhang auf, in der zuletzt anprobierten Hose und einem orangen Sweatshirt mit schwarzen Ärmeln. „Feeeeertig! Puh, endlich! Kaufen wir jetzt noch was Cooles?“ fragt er daraufhin, schnappt sich seine neue Jacke, zieht sie im Gehen an, und macht sich auf den Weg zum Ausgang. Ich schnappe ihn mir bei der Kapuze: „Hiergeblieben, kleiner! Das ganze Zeug müssen wir auch noch kaufen, also bezahlen!“
Er reißt sich wieder los, dreht aber gemeinsam mit mir um, und rennt zur Kasse in dieser Etage. „Also wenn ich schnell genug laufe, dann müssen wir nicht bezahlen!“ gibt er daraufhin noch zurück, und läuft los, allerdings in Richtung Kasse. Das geht in seiner neuen Kleidung auch schon viel besser, und eine Hose, die proportional zum Träger nicht wie ein Zweimannzelt aussieht, steht Giacomo auch wesentlich besser.
Er und unsere Beiden erwachsenen Begleiter stehen schon an der Kasse, als ich als letzter dort eintreffe, mit dem Kleiderberg, besser gesagt Kleidergebirge. Die Verkäuferin hat einen Handscanner in der Hand, und lässt ihn immer wieder über die Kleidungsstücke fahren, wonach sie anschließend den Diebstahlschutz entfernt.
„Man, ist das viel!“, spricht Giacomo aus, was wir alle denken.
„Ja …“ stöhnt die Verkäuferin einstimmend: „Bereiten sie sich auf den dritten Weltkrieg vor?“ fügt sie unterstützend hinzu, während sie den Stapel weiter abarbeitet.
„Ja, also, ähm, wenn das in der Ukraine so weiter geht …“, verbinde ich ihre Bemerkung mit der aktuellen Tagespolitik. Diese ist Giacomo allerdings nicht geläufig, weshalb er mich erstaunt anschaut. „Ne, ist nur eine Übertreibung“, zwinkere ich ihm zu.
„So, das war‘s jetzt auch schon … Ist es noch Freitag, oder haben wir mittlerweile Samstag?“ gibt die Verkäuferin ironisch aufgesetzt aus sich heraus, ich bin mir dabei aber nicht sicher, ob das freundlich gemeint ist, oder nicht.
„Das was ich anhab auch noch!“ informiert uns Giacomo aber ohne Umschweife. Wo er Recht hat, hat er Recht. Die Verkäuferin lächelt ihn an: „Naja, das geht aber schlecht …“ Ich greife Giacomo unter die Achseln, hebe ihn hoch, und mache Anstalten, ihn auf die Verkaufstheke zu setzen: „Doch, klar geht das!“ Glücklicherweise erkennt die Verkäuferin diesen Scherz, grinst, und ich lasse Giacomo wieder herunter auf den Kaufhausboden. Seine bitte, erneut in die Luft gehoben zu werden, ignoriere ich danach aber wissentlich.
Thomas bemüht sich indes um eine pragmatische Lösung: „Nimm dir doch einfach einen Teil der gekauften Klamotten und zeih die an!“
„So geht das natürlich auch“, antworte ich, Giacomo macht sich wortlos über den soeben geordneten Stapel her, sucht sich eine Hose und ein Tshirt heraus, und rennt dann wortlos wieder in Richtung der Umkleidekabinen.
Die Verkäuferin lässt den Kopf auf den Tisch sinken: „Und ich hatte es so schön geordnet!“, beklagt sie sich.
„Tschuldiguuuuuung!“ ruft Giacomo halb genervt zurück, und verschwindet dann aus unserem Sichtfeld.
„Der ist aber ganz schön … lebhaft!“ bemerkt nun auch die Verkäuferin, welcher mit meiner Mutter grade dabei ist, die Klamotten in Plastiktüten zu stecken. Ich befürchte, wir werden zum Transportieren noch einen Zwanzigtonner mieten müssen.
„Ja, das können sie laut sagen!“ Geben meine Mutter, Ich aber auch Thomas darauf hin zurück, anscheinend hat er den Sachverhalt, welcher meiner Mutter aus leidvoller Erfahrung bereits sofort klar war, mittlerweile auch verstanden.
„Geht’s um mich?“ fragt Giacomo von hinten, und drängelt sich anschließend an uns vorbei. Er lässt die Jeanshose in Kombination mit dem Shirt unvorsichtig auf die Kasse fallen: „Bitteschön!“ grinst er dabei.
„Boah, hast du fein gemacht! Das Anziehen kannst du ja schon ganz alleine!“ necke ich ihn daraufhin als Rache für die vorhergegangene Aktion mit meiner Hose. Da Giacomo Giacomo ist, lässt er das aber nicht auf sich sitzen, dreht sich um, verschränkt die Arme, und streckt mir die Zunge heraus:
„Böööööh! Felber!“ Seine Sprechkünste mit herausgestreckter Zunge sind herausragend, man kann beinahe erahnen, dass er „Selber!“ sagen wollte. Ich entscheide mich, es dabei zu belassen, um keinen intergiacomonalen Zwischenfall zu provozieren. Ich bin nicht wirklich dickköpfig, obwohl ich manchmal doch recht lange auf meiner Meinung beharre.
„So, und wohin gehen wir jetzt? Ich brauch ja auch noch …“ diesmal schneide ich Giacomo wieder den Satz ab, nach einem Blick auf mein Handy.
„Alles Mögliche. Ich weiß. Aber Herr Müller, ich muss ihnen mitteilen, dass unser Zeitfenster begrenzt ist, wir haben inklusive Rückfahrt nur noch etwa eine Dreiviertelstunde. Ich schlage vor, sie konzentrieren sich in dieser Zeit auf wirklich notwendige und wichtige Entscheidungen.“
Angesichts meiner aufgesetzten, überdeutlichen, hochgeschwollen-ironischen Ausdrucksweise muss Giacomo leicht kichern, fragt mich dann aber: „Hä? Und was? Ich brauch ja noch ein Handy und …“
„Nene, ein Handy organisier ich dir schon, aber du vergisst da was …“ Ich hebe meine Stimme, damit auch meine Mutter und Thomas vor uns mich hören: „Äh Mama, wir müssten noch schnell zum dm im Shopcenter“, nun flüstere ich in Giacomos linkes Ohr: „Falls du das von heute Morgen vergessen hast, Windeln halten nicht ewig, generell müssen wir mal Nachschub besorgen.“ Giacomo versteht:
„Uhhhh! Ahhhh! Ja! Ja, wir müssen zum dm!“ gibt mir Giacomo recht. Ich fange in meinem Kopf schon mit Vorüberlegungen an, das mit den Windeln wird wohl auf Dauer noch kompliziert werden. In der Schule wird Giacomo sicherlich nicht mit Pampers rumlaufen, zu Hause hingegen allerdings meiner Vermutung nach schon. Aber wird er sich überhaupt selber wickeln? Braucht er einen Wickeltisch? Und was, wenn er anfängt, groß in die Windeln zu machen? Ich mochte das früher immer sehr, es würde mich wundern, wenn das Giacomo nicht auch so ergehen würde.
Ganze vier Einkaufstüten fallen in den Kofferaum des BMWs, kurz darauf geht der Deckel wieder runter, Thomas setzt sich ins Auto, meine Mutter und ihre beiden Giacomos gehen wiederrum zu Fuß ins nahgelegene Einkaufszentrum.
„Wie machen wir das jetzt eigentlich mit deinen Windeln?“ fragt meine Mutter in Richtung Giacomo, als wir an der Ampel stehen. Statt Giacomo antworte aber ich.
„Naja, deshalb gehen wir ja jetzt in den DM, wie du dir bestimmt denken kannst. Aber ja, die Frage habe ich mir auch gestellt. Also, Giacomo, ich denke mal, bei den Pampers bleiben wir, oder?“ Frage ich nun Richtung Nachwuchsgiacomo.
„Ja, auf jeden Fall, die sind toll!“ Und megapraktisch, dann muss ich nicht mehr auf diese Iggithibäh-Schultoiletten!“ schaltet sich Giacomo ein.
„Ja, aber während der Schule solltest du die wirklich nicht tragen …“ versuche ich, Giacomo möglichst seicht mit der Wahrheit zu konfrontieren.
„Was? Wieso! Die sind doch voll unauffällig! Und wenn ich ansonsten immer welche an hab, dann mach ich mir in der Schule doch in die Hose!“ entgegnet er mir allerdings, worauf ich nur „Grün!“ antworten kann. Die Ampel hat auf Grün geschaltet, und wird nur ein paar Sekunden so bleiben, die Rotphase ist etwa drei Mal so lang wie die Grünphase. Noch während dem Gang über die Straße antworte ich Giacomo wieder.
„Naja, nein, eigentlich nicht. Wenn du dich einmal bückst oder hinhockst, dann sieht man die Pampers sofort weil sie oben aus der Hose rausschaut. Und wie willst du das beim Sportunterricht machen, die Unterhosen haben wir ja genau dafür gekauft, falls die dir nicht aufgefallen sind …“
„Hm, ja, stimmt. Aber das ist doch doof! Muss ich dann, bevor ich mir in die Hose piesel, erstmal nachschauen, ob ich ne Windel an hab?“
Meine Mutter lacht: „Naja, du wirst lachen, Giacomo, normalerweise macht man das so, nur das man schaut, ob man auf dem Klo sitzt, bevor man …“ Giacomo unterbricht sie.
„Ja, aber Nö! Wozu hab ich die Dinger denn dann an? Und ich bin Felix, schon vergessen?“
„Felix, Puh. Naja, aber während der Schule geht das ja wirklich schlecht, du kannst ja auch schlecht von sechs bis Sechzehn Uhr in einer Windel bleiben. Die Pampers saugen zwar wirklich viel, aber zehn Stunden schaffen nicht mal die. Und willst du dich während der Schulzeit wickeln? Ich denke mal, das ist keine Option, oder?“
„Ich denke, er hat diese Hochziehwindeln? Oder nennt man die auch Pampers?“ fragt meine Mutter verwirrt, auch wenn sie sich als Mutter mit so etwas vielleicht am besten auskennen sollte.
„Achso, äh nein!“ Mein Gehirn verknüpft. Pampers für Schule ungeeignet. Auf Toilette gehen. Hochziehwindeln. Bingo! „Mama, du bist genial!“
Giacomo schaut uns gespannt an, meine Mutter bemerkt nur: „Sowieso.“
„Du bekommst für die Schule Pullups, wie wär’s damit! Dann läufst du nicht in die Gefahr, dir aus Gewohnheit in die Hose zu machen wenn du keine Windel in der Schule anhast, kannst aber gleichzeitig auf Toilette gehen. Und das solltest du wirklich machen, denn wenn du 9 Stunden hast, dann wird das wirklich nötig sein.“ Die scheinbare Lösung wirft ein freudiges Lächeln auf Giacomos Mund, welches aber schnell wieder in Verwirrung umschlägt. Zeitreisen müssen wirklich verwirrend sein.
„Was? Neun Stunden? Ich bin doch erst in der Sechsten! Wie kann ich …“
„Nachmittagsunterricht. Gibt es mittlerweile ab der fünf, ich glaube einmal in der Woche. Oder nur einmal alle zwei Wochen? Auf jeden Fall gibt es den, ist in allen Schulen in NRW so. Extra dafür haben wir auch eine Mensa bekommen. Generell, an unserer Schule hat sich echt viel verändert. Ich zeig dir das demnächst mal!“ Wir gehen grade ins Shopcenter hinein, Kunstlicht empfängt uns, und der übergroße Tresen der Bäckerei links neben dem von uns lässt Hungergefühle bei mir hervortreten.
Und zwar nicht nur bei mir: „Ich hab Hunger! Und Durst!“, macht sich auch Giacomo bemerkbar. „Ich auch!“, stimme ich ein.
„Ja, stimmt, es ist ja auch schon längst Mittagsessenszeit, wie konnte ich das nur vergessen?“ Bemerkt meine Mutter daraufhin leicht entsetzt. Ich ändere meine Gehrichtung leicht, und nehme Kurs auf S-Wurst, meines Erachtens nach eine der besten Möglichkeiten, in diesem Einkaufszentrum wirklich etwas zu essen, abgesehen von einem Chinaimbiss und einem recht schlechten Dönerladen. Etwas mehr als eine halbe Stunde haben wir noch, für ein mehr oder weniger gemütliches Essen und anschließenden Windelkauf sollte das hoffentlich noch reichen.
„Was gibt’s hier?“ fragt Giacomo, welchem der Laden noch nicht unbedingt bekannt ist. Und als Leitgeplagter Sohn einer Ökomutter ist er zurecht immer erst einmal misstrauisch, wenn es um neues Essen geht, es besteht ja durchaus die markante Gefahr, etwas gesundes untergeschoben zu bekommen.
„Ess-Wurst! Gibt Pommes, Currywurst, und bestimmt auch noch andere Wurstsorten. Schmeckt lecker, glaub mir. Du darfst auch Ketchup und eine Fanta haben!“ zwinkere ich ihm zu.
Meine Mutter ist grade dabei, sich neben dem großen Fenster auf einen Stuhl zu setzten, dann bricht sie diese Aktion aber ab.
„Was! Giacomo, du untergräbst meine mütterliche Autorität!“ sagt sie in einem belustigten Ton.
„Na komm!“ entgegne ich ihr nur, daraufhin gehen ich und Giacomo zur Bedientheke. Zweimal Currywurst mit Pommes, beide mit Mayonaise und Ketchup, wer hätte gedacht, dass unser Geschmack so ähnlich ist?
„Irgendwie beginne ich mich, an die Zukunft zu gewöhnen. Ist wirklich cool so! Aber Nachmittagsunterricht? Bööööh!“ Giacomo lehnt sich mit dem rechten Ellenbogen auf dem Tresen ab, und tippt mit seiner linken Schuhspitze immer wieder aufs Parkett. „Meinst du, wir sind heute Abend wieder zu Hause?“
„Hm, ich weiß nicht … wenn die merken, dass du wirklich Zeitreisender bist, beziehungsweise wir beide der selbe sind, dann werden die uns glaube ich erstmal untersuchen, vor allem dich. Hat Ismael ja auch schon gesagt, und ich denke, er hat da wirklich recht. Vielleicht findet man Spuren von 2007 in deinem Körper oder so, der Experte bin ich dafür ja auch nicht.“ Ich grinse leicht.
„Hm, das heißt, wir übernachten da, oder wie?“
„Naja, vielleicht … Aber das Forschungszentrum ist wirklich cool, ich hab da ja mein Praktikum gemacht. Da hätten wir zu Mittagessen essen sollen, das wär cool gewesen! Aber auch ansonsten …“
Unser kleines Gespräch wird plötzlich durch zwei Teller Mit Fritten und geschnittenen Currywürsten, zwei Gläsern und einem Becher Kaffe unterbrochen. „Die Getränke könnt ich euch einfach aus dem Kühlschrank nehmen“, informiert uns die Bedienung noch.
Ich gehe mit dem Tablett zu unserem Tisch, Giacomo kümmert sich um die Cola- und Fantaflasche.
„Und du willst wirklich nichts essen?“ frage ich meine Mutter noch, welche grade eine SMS auf ihrem altmodischen Handy tippt, welches für Giacomo wohl völlig normal wirken dürfte.
„Doch, ich habe sicherlich auch Hunger …“ spricht meine Mutter, schaut mich dabei über ihre Brille hinaus an.
„Aber du hast gesagt, du willst nur einen Kaffe, oder?“ frage ich, schon in der Sorge, bei meiner Bestellung etwas vergessen zu haben.
„Nein, ich habe gesagt, bestell mir nur den Kaffe. Aber ich habe auch Hunger auf eine leckere Portion Pommes Frittes und da ich mir aus Erfahrung absolut sicher bin, dass Felix seinen Teller nicht aufessen wird, habe ich erst gar keinen für mich bestellt.“ Ich schaue sie erstaunt an.
„Tja, wo du recht hast … Wieso nennst du ihn Felix! Das ist Giacomo!“ antworte Ich. Dass mein kleines Ich nicht mehr so heißt wie ich, ist sowohl merkwürdig als auch gewöhnungsbedürftig.
„Nö, ich bin Felix, du heißt doch Giacomo!“ sagt aber Giacomo, welcher sich grade auf die Bank neben meine Mutter geworfen hat. „Lecker!“ fügt er noch hinzu, bevor er sich auf die Currywurst stürzt. Ich fange ebenfalls an zu essen.
„Naja, Giacomo, ihr könnt ja schlecht beide Giacomo Leonardo Müller heißen, da hatte ich Felix heute Morgen geboten, sich einen Namen auszudenken, es wäre ja auch sehr verwirrend für Thomas, ich kann ihm ja wirklich schlecht sagen, dass der Kleine ein Zeitreisender ist.“
„Mmmh, ja, if weif“, ich halte kurz mit dem reden an, um erst einmal zu Ende zu kauen: „Ich weiß, hat mir Giacomo, äh Felix! Also Felix hat mir das schon alles erzählt. Aber ich muss zugeben, der Name gefällt auch mir. Aber zu Felix gibt es keinen Spitznamen! Giacomo kann man ja wunderbar mit Giaci oder Giaco abkürzen, aber Felix? Feli? Fell? Nee …“
„Fa fällt mir beffimt nof waf ein!“ gibt Giacomo daraufhin von sich. Ich lehne mich zu ihm hin, grinse, und sage in einem überbetont belehrerischen Ton: „Man spricht nicht mit vollem Muuuuund!“ Nun muss Giacomo grinsen, und verkneift es sich grade noch, mir die Zunge herauszustrecken, als er merkt, dass sich in seinem Mund noch Pommes befinden.
Jetzt bin ich derjenige, welcher lachen muss, was dann auch direkt einen Teil der von mir grade in den Mund beförderten Cola aufs Tablett befördert. Mist.
Ich schaue über meine Mutter hinaus aus dem großen Fenster auf die Straße vor dem Einkaufszentrum, trotz der enormen Breite handelt es sich dabei um eine reine Busstraße, dementsprechend spürt man auch alle paar Minuten die Vibrationen, welche die 18 Tonnen schweren Busse beim Vorbeifahren verursachen. Nach ein paar Minuten stößt Giacomo wie erwartet, den Teller von sich weg, und lässt meine Mutter essen, die Fanta trinkt er hingegen ganz aus. Nicht viel später bin ich mit meiner Mahlzeit allerdings auch fertig, und kurz darauf legt auch meine Mutter die Gabel wieder auf den Teller.
Ich trinke die letzten Tropfen meiner Cola aus, wir stellen die roten Plastiktabletts in einen der großen Servierwagen, und verlassen daraufhin den Bereich des Schnellrestaurants, biegen nach rechts, und laufen Gradewegs auf dem dm zu. Mein Herz beginnt etwas schneller zu schlagen, das von Giacomo bestimmt auch. Windeln einmal im Drogeriemarkt zu kaufen, ich hätte nie gedacht, dass ich das mal machen würde, und meine Mutter hatte vermutlich auch vermutet, dass sie das hinter sich hätte. Falsch gedacht.
„So, und wo gehts jetzt hier lang?“ fragt meine Mutter, während sie sich umschaut, und auch ich muss gestehen, dass ich im Windelkauf zwar recht erfahren bin, der dm für mich aber auch eine Art Neuland darstellt: „Äh, ühm, öhm, öhm äh“, ich schaue mich im Laden um: „Da! Glaube ich …“ sage ich, und gehe in Richtung Rückwand des Geschäftes, die grünen Plastikpakete im Regalaufbau links sehen verdächtig nach Pamperspackungen aus. Von hinten kommt nun auch Giacomo mit dem Einkaufwagen an. Er hat sich hinten auf den Wagen gestellt und lässt den Wagen von alleine rollen bis ich ihn mit beiden Händen stoppe. Ohne große Umschweife nehme ich zwei der Grünen Packungen heraus und werfe sie in den stählernen Korb des Einkaufswagens. Giacomo nimmt sich neugierig eine in die Hand, während ich mich auf die Suche nach den Drynites mache. „Hmm, zweimal 25 Stück, das sollte erstmal reichen. Sind das dieselben wie die, die ich anhab?“
Ich greife mir zwei der kleinen Drynitespackungen und lege sie zu den Pampers dazu: „Naja, fast. Das sind die 6+, die sind noch ein oder zwei Zentimeter größer als die, die ich Zuhause hatte, aber ansonsten sind das genau die gleichen.“
„Hm, wunderbar! Brauchen wir sonst noch irgendwas?“ fragt er mich als Windelsachverständigen.
„Ähm … Also Windeln hast du, Zeug wie ne Gummihose brauchst du nicht, äh … Cremezeugs?“ Auf Sachen wie Schnullis können wir bei Giaco wohl verzichten, denke ich.
„Natürlich braucht er Creme! Du kannst jemanden doch nicht wickeln, ohne ihn vorher einzucremen!“ erklärt mir meine Mutter daraufhin leicht entsetzt.
„Hey, wer sagt, dass ich ihn wickele? Aber ne, stimmt, mit der Creme hast du irgendwie Recht. Hast du als leidgeplagte Mutter eine Empfehlung?“ gebe ich zurück.
„Ich sag das…“ gibt Giacomo von sich zu hören, wird aber durch seine zeitgleich antwortende Mutter unterbrochen und übertont: „Ach, ich hab immer die von Nivea genommen, die ist ganz gut.“ Kaum hat sie diesen Satz beendet, eilt meine Mutter auch schon los, und kommt kurze Zeit später mit einer Plastiktube Niveacreme zurück. Ich wurde ihr im Nachhinein viel zu schnell Erwachsen und Eigenständig in den Augen meiner Mutter, das merkt man ihr häufiger an. Häufig geben wir uns in der Wohnung die Klinke in die Hand, und wenn sie mal in mein Zimmer kommt, dann stecke ich mit den Gedanken fast immer in etwas wichtigem, und bin nur genervt von ihrer Anwesenheit. Diese Probleme wird sie mit klein-Giaci wohl eher nicht haben, das freut sie, und das sieht merkt man ihr an.
„So, hier. Und hier sind auch noch Feuchttücher, die sind auch wirklich praktisch, glaubt mir.“ Sie legt beides in den Einkaufswagen auf eines der Windelpackungen.
„Naja, Feuchttücher haben wir noch zu Hause, falls es dich interessiert“ kläre ich meine Mutter auf, denn so viel weiß ich auch.
„Tja, doppelt hält besser. Felix, musst du eigentlich mal gewickelt werden?“ fragt meine Mutter gesteuert durch ihren Mutterinstinkt, als wäre Giacomo ein Kleinkind und schon immer ihr Sohn gewesen.
„Nö!“ antwortet Giacomo daraufhin nur knapp, schüttelt den Kopf, stellt sich an den Bug des Einkaufswagen und überlässt mir das schieben. Meine Mutter fragt meinen defacto-Bruder, ob er mal gewickelt werden müsste. Würde sie ihn wohl wickeln, wenn er wickelbedürftig wäre? Ich könnte mir das nie vorstellen, auf der anderen Seite traue ich meiner Mutter ja fast alles zu. Ob ich das Ganze nur Träume? Als wäre ein Zeitreisender nicht schon skurril genug, der kleine Windelfelix setzt noch einmal einen drauf.
Autor: giaci9 (eingesandt via E-Mail)
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