Zweite Chance (1) – Kapitel 9
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Kapitel 9 – die Röhre
„Soso, einer von euch ist also der Zeitreisende?“ fragt der mit dem Tablet, von hinten drängelt sich ein anderer Schutzoverallmensch nach vorne, in der Hand ein gelbes Messgerät mit einer Sonde, welche er in der anderen Hand hält.
„Ja, genau, also er hier, nicht ich. Ich bin bloß er, nur halt ein paar Jahre älter. Ist das ein Geigerzähler?“ frage ich erstaunt, als der Mann mit der Messsonde zu Giacomo umschwenkt. Der Mann mit dem Tablet tippt ein paar Wörter mit dem Stift in sein Gerät: „Interessant, also er ist durch die Zeit gereist, und du existierst trotzdem noch?“ murmelt er. „Nein, das ist kein Geigerzähler, wenn ihr in besonderem Maße Radioaktiv verstrahlt gewesen wärt, dann hätte das die Reinraumschleuse schon bemerkt. Das hier ist eine Hallsonde, die misst …“ Nun bin ich mal wieder dran mit dem Unterbrechen, immerhin muss ich mein Ego aufbessern dadurch, dass ich zeige, was ich alles weiß.
„Die misst das Magentische B-Feld, ja, ich weiß. Meinen sie, das steht in Verbindung mit der Zeitreise?“ frage ich, der Mann mit dem Getac-Tablet macht jeweils ein Foto von mir und Giacomo und antwortet mir zeitgleich: „Wie du dir denken kannst, wissen wir das nicht genau, es ist aber durchaus möglich“ der Mann mit dem Messgerät scheint nun fertig mit Giacomo zu sein und schwenkt zu mir herüber, das Tablet gibt einen Piepton von sich, vermutlich hat es die Messung grade vom Messgerät übermittelt bekommen. „Folgt mir bitte“, instruiert uns Kai, welcher scheinbar kurz weg war, ohne dass wir es bemerkt hätten: „Wir werden euch jetzt zuerst Blut abnehmen, nicht viel, aber wir müssen die Bestandteile eures Blutes untersuchen, und vergleichen.“
Wir gehen in gemächlichem Tempo durch den Wirrwarr von gläsernen Gängen, in Anbetracht von Kais Schutzkleidung ist diese Langsamkeit aber keinesfalls verwunderlich: „So, hier entlang“, lotst uns Kai weiter, und hält uns die Tür zu einem Raum auf. Silberne Mettalltische, auf den ersten Blick herkömmliche Bürostühle, bei welchen die Sitzfläche allerdings aus Plastik statt aus Stoff ist, zwei ebenso geartete Plastikliegen und verschiedenste elektronische Geräte.
Auch in diesem Raum ist es extrem hell, die reflektierenden Tische verstärken diese Wirkung noch. Ich schaue zu Giacomo herunter, welcher auch schon die Augen zugekniffen hat. Durch eine weitere Tür kommt ein weiterer Wissenschaftler hinein, welcher einen monströsen Laptop an einem Henkel wie einen Koffer hereinträgt.
„Ok, wir werden euch nun Blut abnehmen müssen, dafür bekommt ihr hier diese Teile“, er hält eine kleine Nadel mit einem Ventil nach oben: „Diesen zentralen Venenkatheter in eure linke Hand gestochen. Also es sei denn, ihr seid Linkshänder, dann natürlich an die rechte. So, wer will zuerst?“ fragt er uns ziemlich direkt mit einem indischen Akzent.
Giacomo meldet sich: „Er!“ sagt er aber, und zeigt dabei auf mich. Seine Skepsis kann ich nachvollziehen, aber im Gegensatz zu ihm kenne ich dieses Nadelding schon aus dem Krankenhaus, und habe ja generell die Illusion von mir, dass ich ein total harter Kerl bin, weshalb ich ohne Wiederrede nach vorne trete. „Setz dich besser auf den Stuhl da, beim Blutabnehmen kippen häufiger Leute um. Wobei, hier ist uns noch keiner umgekippt, aber setz dich trotzdem besser hin“, instruiert er mich. Ich entschließe mich, mich hinzusetzen. Kurz daraufhin befindet sich eine Nadel in meiner linken Hand. Ein paar Handgriffe später steckt am Ventil auch schon eine Art Spritze.
„Tut das weh?“ fragt mich der sichtlich besorgte Giacomo. „Achwas, nein, niemals, das ist nur eine Nadel.“ Beruhige ich ihn, während ich einen Klettgürtel um meinem Oberarm gelegt bekomme, mit dem Ziel, mein Blut im Unterarm anzustauen. Instinktiv balle ich mit meiner Hand eine Faust noch bevor ich die Aufforderung dazu bekomme. „Ja, genau, darum wollte ich dich grade bitten“, bestätigt der Inder auch. Giacomo schaut gespannt zu mir rüber, wackelt mit den Beinen, und bekommt von Kai und dem Tabletmenschen ein paar Fragen gestellt. Während wir abwarten, dass sich in meinem Arm genug Blut staut, schaue ich mich im Gebäudetrakt um, was aufgrund der Verglasung ringsherum recht einfach geht.
Auf der linken Seite kann ich auf der anderen Seite des Flures, durch den wir grade gegangen sind einen größeren Raum sehen, die Glasfront ist allerdings vollgestellt mit einer Bildschirmwand, dort scheinen sich viele Personen zu befinden. Auf der rechten Seite angegliedert befindet sich eine Art Labor, viele größere Laborgeräte, Reagenzgläser und anderes wissenschaftliches Equipment. Gegenüber von der Bildschirmfront befindet sich ein weiterer scheinbar größerer Bereich, allerdings mit Plastikvorhängen vor neugierigen Blicken geschützt, dasselbe gilt für den Bereich vor mir, dort gibt es erst gar keine Glasfenster, die ganze Wand ist aus Metall. „So, jetzt ist es so weit“, sagt der Forscher leicht stotternd, und fängt an, am Ende der Spritze zu ziehen, kurz darauf sehe ich, wie mein Blut in die Ampulle spritzt. Ich atme hörbar die reine Luft welche mich umgibt ein, für einen Pollenallergiker wie mich ist diese Luft ein reines Paradies.
„So, fertig“ erfahre ich, kurz darauf wird die die Blutampulle auch schon von mir abgesteckt: „Lass aber bitte den ZVK in dir drin, den werden wir vermutlich noch brauchen, und wir müssen dich dann nicht nochmal pieksen“, erklärt er mir, während er auf den Stachel in meiner Hand deutet. Ich komme mir leicht wie ein Kind behandelt vor von dem indischen Wissenschaftler, entscheide mich aber aus bekannten Gründen, dagegen keinen Wiederspruch einzulegen. „Kannst du den Behälter zu dem Team dahinten bringen?“ fragt mich Kai aber hingegen, welcher zu verstehen scheint, dass ich mir ein aktiveres Mitwirken bei der Zeitreisenerforschung wünschen würde. „Kein Problem!“ gebe ich zu erkennen, schnappe mir die Ampulle und will den Raum durch die Klinkenlose Türe verlassen, werde aber durch die Ampulle gestört, welche mir aus den Händen gleitet und vor die Füße fällt.
„Fuck!“ stößt es aus mir heraus, dann bemerke ich aber, dass der Behälter aus Plastik ist, und Infolge dessen unbeschädigt ist. Nichtdestotrotz, eine wirklich fahrlässige Aktion von mir, in Zukunft sollte ich es mir vielleicht wirklich sparen, mit meinem eigenen Blut zu jonglieren. Scheinbar scheint aber keiner etwas von meinem Missgeschick mitbekommen zu haben, weshalb ich mich nun langsam aus meiner Schockstarre löse, hinknie, und die Ampulle aufheben will.
Das scheint Kai aber zu erschrecken: „Was? Wieso hast du keine Windel an?“ fragt er mich verwundert. Verwirrt und aufgescheucht springe ich auf, der Blutbehälter fällt mir aufgrund meiner Nervosität ein zweites Mal aus den Händen: „Was? Wieso? Wieso sollte ich?“, und auch der indische Assistentsarzt scherzt: „Mister Wong, wir sind hier nicht in den Staaten, wo es vielleicht normal ist für euch Ungebildete, eure Kinder bis sie erwachsen sind in Windeln zu stecken! Wir sind hier im gebildeten Europa!“
Kai scheint das aber nicht zu erheitern: „Nein, klein-Giacomo trägt doch eine Windel, das hab ich genau gesehen! Ich dachte, ihr seid halt Inkontinent oder so, aber du hast ja keine an, das sieht man ja! Macht Giacomo etwa erst seit der Zeitreise wieder in die Hose? Das ist wichtig!“ erklärt er, während Giaci große Augen bekommt.
„Was? Das hast du bemerkt? Na toll!“ bevor er sich aber weiter darüber beschweren kann, dass er anscheinend enttarnt wurde, ergreift Kai wieder das Wort: „Nicht, dass sich Giacomos Organe zurückbilden! Ich mein, das hätten wir jetzt wohl anyway bemerkt, aber sowas müsst ihr mir doch sagen! Das müssen wir sofort genau untersuchen!“ er wird richtig hektisch, und will gerade den Raum verlassen, als ich anfange, zögerlich zu antworten: „Nein! Nein! Nein! Halt, Stopp!“ ich mache eine kurze Pause: „Giacomos Niere oder Blase oder was auch immer bildet sich nicht zurück, also nicht das ich wüsste.“ Pause.
„Und nein, wir sind auch nicht inkontinent. Giacomo, also, naja, ich und Giacomo wir, ähm nunja“, optimal wäre es jetzt, wenn Giacomo nun mit seiner kindlich unschuldigen Art meinen Satz vollenden würde, dem ist aber nicht der Fall: „wir mögen die Windeln einfach, es gibt keine medizinische Notwendigkeit für sie.“ Nun herrscht peinliches Schweigen. Ich knie mich abermals hin um meine Blutprobe aufzuheben, und abermals ist meine Windel durch Nichtexistenz nicht zu sehen.
„Also psychologisch ist das hochinteressant, so etwas kommt aber öfter vor, vor allem in dieser westlichen Konsum-Leistungsgesellschaft“, fängt sich der Inder als erstes. Ob er wohl auf der No-Fly-Liste des FBI steht? Man könnte es sich fast denken. „Ich bringe dann mal die Probe weg“, sage ich dann irgendwann zögerlich, und mache mich wieder auf den Weg zum Bildschirmraum, nicht ohne beim Verlassen des Raumes über die Schulter zu schauen, wie Giacomo unser „Windel-Outing“ aufgenommen hat, dieser scheint sich aber mehr auf das Blut, was ihm grade entnommen wird, zu konzentrieren als auf sein Ansehen in den Augen von Kai und dem vorerst namenlosen Assistenzarzt.
Ich drücke die Flügeltür auf, und befinde mich kurz darauf in einer recht eigenartigen Kommandozentrale. Gummimattentastaturen, Bildschirme an der Wand, und eine große Anzahl an Leuten, alle in Partikelschutzanzügen, wie ihn sich auf Kai eben im hinteren Bereich der Schleuse angezogen hat. Dass ich eben die Tür zum Raum geöffnet habe, scheint bisher keiner zu bemerken, die Forscher scheinen alle mit ihren Bildschirmarbeitsplätzen und Tablets beschäftigt sein, Diagramme und stilisiere Körpergrafiken mit Daten sind auf den vielen LCD-Displays zu sehen, was in diesem Aufbau aber völlig fehlt, sind Papier oder Stifte, die Tische sind nahezu völlig leer. Vermutlich sind diese zu unrein. „Hallo, äh, hier ist die erste Blutprobe.“ Sage ich schließlich, in der Angst, sonst im Warten darauf, dass mich jemand bemerkt, umzukommen.
„Vom Timetraveller oder seiner Now-Entsprechung?“ werde ich von einem älteren Mann auf einem Plastiksitz neben mir gefragt. Interessant, ich bin also eine „Now-Entsprechung“. Ich entschließe mich, meine Identität im Ungewissen zu belassen und antworte nur mit: „Letzterer. Die andere müsste auch gleich kommen.“ Ob ich auf diese Weise noch an eine Smartcard des Forschungszentrums komme welche mir Zutritt zu allen Bereichen gewährt, komme? Auf dem Rückweg zum Blutabnahmeraum lasse ich mir etwas Zeit, und nehme den Weg durch einen anderen Flur, was aufgrund der Verglasung nicht unbedingt schwer ist. Wieso sind wir eigentlich hier im Reinraum? Die Blutabnahme hätte man doch überall machen können, überlege ich, und bin gespannt in der Erwartung auf die folgenden Untersuchungen.
Während ich weiter über den Boden laufe, spüre ich eine Regelrechte Massage durch die Luftlöcher im Boden, vermutlich dringt die gefilterte Luft von unten in den Gebäudetrakt hinein und wird durch die Abzugshauben aus der Decke neben den leicht bläulichen Lampen wieder herausgesaugt. Langsam wird mir leicht kalt, die Raumtemperatur scheint hier leicht kälter zu sein als in normalen Gebäuden, oder handelt es sich dabei um eine ansteckende Zeitreisenkrankheit, welche langsam aber sicher mein Kälteempfinden verändert?
„So, das wars auch schon wieder!“, verkündet der mir immer noch nicht mit Namen bekannte Assistenzarzt und steckt dieselbe Blutampulle wie bei mir von Giacomo ab, als ich wieder den Raum betrete. Ich will mir die zweite Blutprobe schon wieder nehmen, Kai hindert mich aber daran: „Apu, kannst du das zum Kwik-E-Markt bringen? Ich wollte die beiden schon mal aufs MRT vorbereiten, immerhin haben wir heute noch einziges vor.“ „Zum was?“ fragen Giacomo und ich gleichzeitig, mit deutlicher Betonung auf dem „Was“. Giacomo und ich kämpfen kurz darum, wer nun weiter reden darf, Giacomo gewinnt den Vortritt. „Sie heißen Apu, und müssen was in den Kwik-E-Markt bringen? Gibt es die Simpsons in der Zukunft wirklich?“
„Hahaha, Nein. Also ja, er heißt wirklich Apu, aber nein, wir nennen das Reinraumlabor Kwik-E-Mart, weil Apu quasi den ganzen Tag da drin ist“, erklärt Kai, der asiatische Nordamerikaner mit Humor: „Aber nun folgt mir, wir werden jetzt noch ein paar Sachen an euch untersuchen.“
„Mannoman, ihr Forscher seid echt verdammt cool drauf! Die Leute bei meinem Praktikum im ZAT waren längst nicht so witzig!“ kläre ich Kai über meine Meinung auf und auch Giacomo stimmt mir zu: „Ja, und das ist total interessant alles, hier wäre es cool in die Schule zu gehen! Also halt nicht in die Schule gehen, aber unterrichtet zu werden“
„Ja, das freut mich zu hören, aber mir geht es ehrlich gesagt genau so, die Abteilung 1406 ist im ganzen Forschungszentrum einzigartig, auch wenn wir nicht grade sehr bekannt sind“, antwortet er, während er seine Authentifizierungskarte durch einen Magnetkartenleser zieht, kurz darauf befinden wir uns in dem kleinen Raum hinter der Metallwand. Eine längere Röhre befindet sich hier drin, ein paar Stühle, ein Tisch, und ein zweiter Raum, welcher von dem ersten wieder mit Fenstern getrennt ist. Hinter dem Fenster sitzen wieder zwei Wissenschaftler, welche schon auf uns zu warten scheinen.
Kai weist uns an, uns auf die Stühle niederzulassen während er mit flatterndem Kittel zu den anderen beiden Forschern weiterläuft, Giacomo und Ich schauen uns das Röhrengerät an in Erwartung der nächsten Untersuchung.
„Ob wir da reingeschoben werden, und dann immer weiter gedreht werden, wie Astronauten?“ fängt Giacomo als erstes an mit den Mutmaßungen über die raumausfüllende Röhre mit vorstehender Bahre an.
„Nein, Dings, Kai hat doch eben gesagt, dass er uns aufs MRT vorbereiten will. MRT, das heißt meine ich Magnetresonanztomographie, wir werden in die Röhre geschoben, und nachher kann man in unseren Köper und insbesondere in unser Gehirn reinschauen. Also quasi so wie beim Röntgen, nur halt … äh, anders. Vielleicht zeigen sie uns die Bilder ja nachher.“ Antworte ich mit meiner Theorie. Giacomo scheint sie anzunehmen.
„Hm, klingt logisch. Und jetzt?“ fragt er, da wir immer noch ohne Aufgabe auf den Stühlen sitzen. Zur Ablenkung hat Giacomo schon angefangen, mit den Beinen herum zu schaukeln und ich greife instinktiv in meine Tasche, wo sich mein Handy befinden sollte. Dort herrscht aber gähnende Leere, mein Mobiltelefon befindet sich in einem der Schränke in der Reinraumschleuse.
„So, das System hier braucht noch ein wenig zum Hochfahren, so zehn Minuten etwa. Währenddessen, äh, hm“, man sieht Kai an, dass er überlegt, und alle Möglichkeiten zur effizienteren Zeitnutzung durchgeht: „Hm, das ist echt doof. Eigentlich wollte die Psychologin sobald wie möglich mit euch sprechen, aber die darf nicht in den Reinraumtrakt hier, und …“
„Wieso sind wir eigentlich hier?“ Frage ich nun, und auch Giacomo stimmt in meiner Frage zu. Auch wenn die sterile, kühle Umgebung des Labors durchaus sehr interessant ist, wirft es doch die drängende Frage auf, was mit mir und Giacomo nicht stimmt, damit die Notwendigkeit besteht, uns in diesem Labor zu untersuchen.
„Naja, bis jetzt ist das wirklich eine reine Vorsichtsmaßname, nachher werden wir aber auch vielleicht noch Untersuchungen machen, welche in einer normalen Umgebung so nicht durchgeführt werden können. Aber ist doch interessant hier, oder? Ihr müsst ja auch noch nicht mal diese kratzigen Overalls tragen! Ihr könnt das ja als Wellness-Kur sehen!“ bemüht sich Kai, uns zu bespaßen und beruhigen.
„Dann hätte ich bitte noch gerne einen Apfelsaft, Herr Ober!“ gibt Giacomo zu meinem Erstaunen sehr schlagfertig zurück, wobei ich ihm aber zustimmen muss, obwohl ich die Frage vermutlich etwas anders gestellt hätte. Die trockene Luft in diesem Räumen führt wirklich zu Durst, meine Kehle ist ganz trocken. In der MRT-Röhre springt mit einem kurzen Flackern grelles Neonlicht an worauf hin uns einer der beiden Forscher hinter den Computerbildschirmen im Observationsraum: „Wir habens gleich! Muss nur noch ein paar Minuten laden!“ zuruft, was Kai mit einem zurückgerufenen „Wunderbar!“ quittiert. Wenige Sekunden später ist er auch schon wieder aus dem abgekapselten Bereich des Reinraums verschwunden, in welchem man sich durch die undurchsichtigen Wände im Vergleich zum restlichen Ambiente schon fast ein bisschen Privat fühlt.
Unerwartet ist es nun recht still in dem kleinen Raum, ich schaue Giacomo an, um wieder ein Gespräch zu beginnen, aber obwohl ich mit der jüngeren Ausgabe von mir selbst eigentlich ohne Probleme ein Gespräch führen können sollte, fällt mir kein Thema ein. Giacomo hingegen aber schon. Gleich mehrere: „Wie spät ist es jetzt eigentlich? Und wie ist das jetzt eigentlich genau, legen wir uns jetzt auf die Bahre und werden dann in die Röhre geschoben und dann quasi geröntgt?“
„Ja, ich glaube, genau so ist das, man bekommt sogar Kopfhörer mit Musik auf meine ich, da drin ist es ziemlich laut sonst, glaube ich. Und das dauert auch was, aber Kai erklärt uns das bestimmt gleich“, gebe ich das wieder, was ich bisher von dritter Hand oder aus dem Internet über Magnetresonanztomographie erfahren habe.
„Musik? Cool, ob man seine eigene hören kann? Du könntest ja dein Handy anschließen, das geht ja bestimmt mit einem Kopfhörerkabel, und dann würde ich mal deine Musik kennen lernen, die gefällt mir bestimmt ziemlich gut!“ schlägt Giacomo in unserm gewohnten, schnellen Sprechtempo vor.
„Ne, mein Handy hab ich ja abgegeben eben in der Schleuse. Sonst …“ Ich höre auf zu sprechen, und nehme einen der beiden Trinkflaschen welche Kai uns reicht. Sie erinnern stark an die Saugnapf-Trinkflaschen, wie es sie für jüngere Schüler gibt, oder wie man sie auch im Sportbereich häufig verwendet: „Oh, danke!“ sage ich, kurz darauf trinke ich auch schon das Mineralwasser aus der Flasche.
Giacomo schien es ähnlich zu gehen, auch er scheint kurz vor der kompletten Austrocknung gestanden haben und während er die Flasche leertrinkt, ergreift unser persönlicher herumführtyp Kai wieder das Wort: „So, unsere Röhre müsste jetzt fertig sein. Ihr werden dann beide nacheinander auf dieser Bahre in die Röhre reingeschoben, gescannt und seit dann nach etwa einer viertel Stunde fertig. Das ist nicht schwer, ihr müsst eigentlich einfach nur rumliegen.“
Einfach nur rumliegen? Da spricht er wohl mit den falschen aufgedrehten Kindern, besser gesagt mit dem falschen aufgedrehten Kind und Jugendlichen.
„So, wer will zuerst?“ fragt Kai nun vorsichtig worauf Giacomo allerdings direkt: „Er!“ antwortet, und wie auch schon bei der Blutabnahme mich zeigt. „Sieht so aus, als wäre ichwieder Freiwilliger, oder? Nagut. Aber danach bist du an der Reihe, kleiner!“ mache Ich Giacomo klar, dass er sich nun zwar etwas Zeit verschafft hat, aber trotzdem noch in die Röhre reinmüssen wird.
„So, jetzt einfach hier auf die Bahre legen. Bitte während der Untersuchung möglichst wenig Schlucken, nicht Gähnen und sowas. Und falls du nochmal auf Toilette musst, dann sag besser jetzt Bescheid!“, weißt mich Kai in die Untersuchung ein, bei der letzten Frage kann sich der gespannt von hinten zuhörende Giacomo allerdings ein Grinsen nicht verkneifen.
„Ja, ne, geht schon. Ich glaube, das kriege ich hin“, antworte ich trocken, kriege die Ohrenschützer aufgesetzt und lasse mich auf der ziemlich kalten, weißen Plastikbahre nieder.
Gleichzeitig gibt Kai ein Zeichen in Richtung des Observatoriums und einen kurzen Augenblick später fährt die Bahre schon mit dem charakteristischen leisen Gesumme von Servomotoren in die MRT-Röhre. Ich winke Kai und Giacomo noch kurz grinsend zu, im nächsten Moment befinde ich mich aber auch schon komplett in der grellen weißen Röhre. Stark gedämpft bemerke ich ein beginnendes Tieferes Summen, ansonsten ist es komplett still und auch zu sehen gibt es innerhalb der Röhre nichts. Es sieht so aus, als müsste ich mich die nächsten Minuten wohl selbst beschäftigten.
Unmittelbar fange ich an, in Gedanken zu schwelgen. Ob man nachher anhand des Scans bestimmen kann, welche Gedanken das waren, oder zumindest, in welche Richtung sie gingen? In ein paar Stunden befindet sich Giacomo schon 24 Stunden in der Zukunft, beziehungsweise in meiner Gegenwart. In dieser vielleicht eigentlich recht kurzen Zeit hat sich so viel verändert, zumindest fühlt es sich so an. Wir haben Eingekauft, als wüssten wir, dass Giacomo dauerhaft bei uns bleiben würde, und auch Windeln haben wir nun im Überfluss. Einen Monatsvorrat Pampers und Drynites, einfach im Drogeriemarkt gekauft ohne uns groß bewusst darum zu kümmern, wer das vielleicht mitbekommen dürfte, als wäre diese Szene einem Tagtraum von mir oder einer schlechten Windelgeschichte entsprungen.
Ob ich das hier alles nur Träume? Das grelle weiße Licht um mich herum und das monotone Summen würden dazu bestimmt passen. Eigentlich wollte ich es immer so, einen coolen kleinen Bruder, dem man Sachen beibringen kann und mit dem man aber auch mal auf kindische Art Spaß haben kann. Wer könnte denn cooler sein, als ich selbst als Kind? Eigentlich sollten wir uns prächtig verstehen, und meine Windeln muss ich mir wohl in Zukunft wohl auch nicht immer komplett selbst bezahlen, die Drynites kann ich mir in Zukunft bestimmt von Giacomo schnorren.
Das ist auch so eine Sache, Giacomo, der jetzt anscheinend Felix heißt. Auf jeden Fall praktikabel denn zweimal derselbe Vor- und Nachname? Das hätte in der Schule wohl ein ziemliches Chaos hervorgebracht, immerhin bin ich ja bisher immer ein ziemliches Unikat gewesen und nun gibt es mich quasi zweimal. Das wird in Zukunft auch sehr interessant werden, wie es Giacomo wohl in seiner äußerlich in Teilen stark veränderten Schule mit neuen, netten Klassenkameraden so ergehen wird.
Bevor ich aber in meinen Gedanken noch die geheime Weltformel finde, hört das Summen auch schon auf und die Bahre fährt langsam wieder heraus. Der kleine, braunhaarige Junge, welcher seinen Kopf auf seine Arme gestützt hat und in meine Richtung schaut, zeigt eindeutig, dass das in den letzten 24 Stunden erlebte wohl kein Traum war. Oder aber, ich träume immer noch.
Ich drehe mich zur Seite, und erhebe mich schnell von der Bahre, nicht ohne, meine Kleidung anschließend sauber zu klopfen. Komplett überflüssig eigentlich, denn in diesem Reinraum befindet sich, wie zu erwarten war, kein Staub auf der Liege.
„So, kleiner, jetzt bist du dran!“, übergebe ich an Giacomo, und klopfe ihm an die Schulter, als ich mich wieder neben ihn setzte: „Das ist auch total easy und entspannend, ganz einfach, dadrin isses auch hell und so, das geht echt“, muntere ich ihn auf, und klopfe ihm noch auf die Schulter während ich mich wieder auf den Stuhl neben Giaco niederlasse. Zögerlich steht dieser deshalb auch auf, und legt sich auf die Bahre, auf der ich eben auch schon lag.
Als Kai aus dem Nebenraum sieht, dass sich Giacomo schon auf die Bahre gelegt hat, kommt er auch wieder schnellen Schrittes rüber und beginnt damit, nun auch Giacomo die kommende Untersuchung zu erklären. Vermutlich überflüssig, denn so wie ich Giacomo und mich kenne, hat er eben schon gut genug zu gehört, um nun zu wissen, wie er sich verhalten muss.
„So, ich hab das ja eben schon deinem Zukunfts-Ich erklärt, aber ich wiederhol das jetzt einfach mal, dann komm ich mir wichtiger vor“, Kai macht eine kurze Pause, und ich sehe ein Grinsen auf Giacomos Gesicht, Kai versteht es wirklich, mit Kindern umzugehen. Vielleicht hätte er Erzieher werden sollen: „Also, wir werden dich da gleich reinschieben, dann wirst du etwa eine Viertelstunde durchgestrahlt, dabei solltest du dich möglichst wenig bewegen und schlucken oder gähnen, auch wenn es dadrin vielleicht entspannend sein mag. Und falls du nochmal auf Toilette musst, dann …“ Kai stockt kurz: „Oh, ich vergaß! Ja, das wars dann. Bereit?“
Von Giacomo erhält er ein promptes und entschlossenes „Bereit!“, kurz darauf ist dieser auch schon auf die Liege gesprungen, und fährt langsam in die Röhre hinein. Wie Ich eben, winkt er uns zu, und Sekunden später ist er auch wieder im weißen, hellen, Licht verschwunden. Kai verschwindet wieder im Nebenraum, und ohne ihn zu fragen, folge Ich.
„Ist das mein Gehirn?“ frage ich, als ich die aus dem Fernsehen bekannte bunte Darstellung eines gescannten Gehirns auf einem der vielen hochkant gedrehten Monitore sehe.
„Ja, genau, das ist deines, das deines Bruders, äh von dem kleinen, ist ja noch im Scan, das haben wir noch nicht. Das wird eigentlich auch interessant, da kann man dann schön sehen, wie sich das bei euch verändert hat und was ihr in der Zeit der letzten Jahre so gelernt habt quasi.“
Da hat er wohl Recht, das ist wirklich nicht uninteressant. Was Giacomo jetzt wohl denkt? Vielleicht denkt er ja genau dasselbe wie ich grade, vielleicht denkt er aber auch über die Verkabelung seiner zukünftigen Stereoanlage in seinem neuen Zimmer nach, über sein neues Handy, wenn jemand hier wirklich viel zum Nachdenken hat, dann wohl er.
Aber auch ich habe genug, über was ich mir Gedanken machen könnte, sodass die Zeit, in der Giacomo in der Röhre liegt, wie im Fluge vergeht. Als die Bahre langsam wieder herausfährt, gehen Kai und Ich wieder zurück in den Hauptraum um den Kleinen wieder in Empfang zu nehmen. Langsam kommt immer mehr von Giacomo zum Vorschein, wie bei einer Geburt, nur dass Giacomo Elf ist, komplett angezogen ist, und nicht komplett verklebt und nass aus der MRT-Röhre heraus kommt. Allerdings, so fällt es mir auf, ist um die im Liegen gut zu erkennende Mittelnaht von Giacomos neuer Jeans eine deutliche Ausbeulung durch die mittlerweile schon recht dick aufgequollene Windel zu erkennen. Das kenne ich so von mir selbst, bei den engeren Jeans passt sich die Windel dann beim aufquellen gezwungenermaßen an die Jeans an, wobei sie meiner Vermutung dabei auch Saugvolumen einbüßt. Generell, Giacomo hat seine Pampers mittlerweile wohl bald seit fünf oder sogar fast sechs Stunden an und vermutlich wird es langsam Zeit für einen Windelwechsel.
„Das war irgendwie witzig! Wie als wenn man in einem leeren Raum schweben würde, ich meine, der Himmel in Filmen ist ja auch immer so, hell und still und leer!“ fasst Giacomo sein und mein Erlebnis in der weißen Röhre zusammen und erhält von mir dafür ein Zustimmendes Nicken, gefolgt von einem „Genau!“ Nun mache ich meinen Mund zum Sprechen auf, weiß allerdings noch nicht genau, wie ich nun sagen soll, dass Giacomos Windel einen Wechsel vermutlich recht nötig hat, ohne dass dies für Giacomo vor Kai und den Forschern im Nebenraum zu peinlich wird.
„Artikuliere dich! Am besten mit Worten!“ schlägt Kai mir nun auch vor, weshalb ich nun ganz direkt versuche zu antworten: „Naja, ähm … Giacomos braucht so langsam mal einen Windelwechsel, wie … wie machen wir das? Wir müssen ja aus dem Reinraum raus, um Nachschub zu holen …“ führe Ich aus, wobei mir nicht entgeht, dass Giacomo der Meinung ist, das seine Windel noch mindestens eine Stunde länger Urin aufsaugen könnte: „Jetzt schon? Sicher?“ Kai hingegen scheint in pragmatischer Forschermanier die weiteren Optionen durchzugehen. „Ok, ich denke, dann gehen wir erstmal aus dem Reinraumtrakt raus“ sagt er, deutet mit den Fingern dahin, wo sich vermutlich die Schleuse zur Werkshalle befindet und geht nun gefolgt von uns in genau diese Richtung. Giacomo hält seine Hand an mein Ohr, und beginnt, mir etwas zuzuflüstern: „Meinst du echt, die muss schon gewechselt werden? Die ist grade so schön dick und matschig geworden! Die hält echt nur so kurz?“
„Naja, so kurz ist das jetzt auch nicht, und um ehrlich zu sein, da geht vermutlich schon noch was mehr rein, aber wenn wir dann nicht aufpassen, ist das ruckzuck wieder so, wie heute Morgen und das wär ganz schön blöd oder? Ich weiß ja aus eigener Erfahrung, je voller die Windel, desto cooler ist die auch, aber ich denke, wir gehen echt mal auf Nummer sicher“, antworte ich, ohne zu merken, dass wir schon fast wieder in der Schleuse angelangt sind.
Autor: giaci9 (eingesandt via E-Mail)
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