Zweite Chance (2) – Kapitel 12
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Kapitel 12 – Robin, der Held
Was bisher geschah:
Hi, ich bins, Felix! 🙂 Oh ihr kennt mich nicht? Echt jetzt? Ok, dann nochmal ganz von vorne. Ich bin Felix, naja ok, eigentlich bin ich nichtmal Felix. Im Juli 1996 wurde ich mit dem Namen Giacomo in einer großen Stadt im Rheinland geboren und heute, im Jahre 2014 bin ich schon Elf! Wenn ihr etwas besser in Mathe seid als ich, werdet ihr jetzt bemerkt haben, dass da etwas nicht stimmt. Wenn nicht, dann solltet auch ihr vielleicht nochmal in die fünfte Klasse! Ist witzig! Worum gings grade? Genau! Wieso ich erst 11 bin? Ich habe eine Zeitreise gemacht! Aus dem Jahre 2007 ins Jahr 2014!
Da ist eine Menge passiert! Nun bin ich dauerhaft in der Zukunft, wurde von geheimen Spezialforschern untersucht und das Ich aus dem Jahre 2014, also der Siebzehnjährige Giacomo haben wegen irgendeines Problems sogar kurz Körper getauscht, das heißt, ich war sogar schon mal 17 Jahre alt! Irgendwie.
In der einen Woche, die ich jetzt schon in 2014 bin, ist wirklich krass viel passiert. Fast als erstes habe ich eine der Sachen, die ich mir immer gewünscht habe. Nein, nicht die Legopolizeiwache! Windeln! Ja, schaut nicht so, ich weiß, das ist für einen Elfjährigen eher unnormal ist, aber Pampers sind echt voll cool! Und so trage ich seit sieben Tagen Windeln, sogar rund um die Uhr – wie ich das immer wollte. Auf Klo gehen ist voll out! Jedenfalls heiße ich mittlerweile nicht mehr Giacomo, denn das ist ja offensichtlich mein großer Bruder, also der siebzehnjährige Giacomo. Ich bin jetzt Felix und außer mir, meinem neuen Bruder Giacomo und meiner Mutter weiß auch niemand etwas von meiner Zeitreise, alle denken stattdessen, ich wäre irgendwann 2003 geboren. Ist aber nicht so! Seit Gestern gehe ich auch schon wieder in die Schule und habe auch schon einen neuen Freund gefunden, Fabi. Der könnte auch mal Windeln gebrauchen, finde ich, aber das ist eine andere Geschichte. Wobei, nö, eigentlich nicht, das ist auch diese Geschichte. So, dass wars auch schon! Tschöööö mit ö! Und T, s, c und auch dem h. (:
Kapitel 12:
Wäre das hier ein Klischee, würde er zu sich selbst „Es war mein schwerster Fall“, murmeln und währenddessen an einer billigen Zigarre rauchen. Natürlich im Trenchcoat. Natürlich war das nicht der Fall. Auch wenn man Polizeioberkommissar Kattner durchaus Nachlässigkeiten an seinem Kleidungsstil vorwerfen könnte, hatte er doch noch nie etwas für Klischees übrig. Ebenso wenig wie Kattner war sein momentaner Fall ein Klischee. Ein grade Elf Jahre alt gewordener Junge verschwand spurlos. Nicht von der Straße, nicht in einen schwarzen Lieferwagen gezerrt, sondern seinem Schulranzen und Wohnungsschlüssel nach zu folge, aus der heimischen Wohnung. Am Freitag davor bekam der Elfjährige mit dem Namen Giacomo eine Klassenarbeit in Englisch zurück, die seiner Klassenlehrerin zu folge mit einer Vier minus bewertet wurde. Kein Grund zum Ausreißen, sollte man meinen. Zwei Jahre zuvor verstarb der Vater. Eines natürlichen Todes. Zwei Jahre später deswegen abzuhauen, wäre ebenfalls weit hergeholt und so verschwand nach und nach eine Möglichkeit nach der anderen von der Übersichtstafel, im zugigen Anbaugebäude der lokalen Polizeibehörde.
„25.08.2007 – 13:40. Letzter Kontakt mit Giacomo“ las der Neue in der Sonderkommission, Sergej Petroschko, ein vergleichsweise junger Polizeibeamter Anfang 30, von der großen Übersichtstafel vor. Sergej wurde, gänzlich ohne ersichtlichen Grund, erst vor fünf Tagen, also drei Tage nach dem Start der Sonderkommission, aus einer kleinen Polizeibehörde zu Kattners Team versetzt. Unüblich, wie Kattner fand, diese Sonderkommission war immerhin ein außergewöhnlich ungeeigneter Ort, um Beamte abzuladen die unangenehm Auffällig geworden waren. Und welchen anderen Grund sollte es schon geben, nach dem Start zu der Soko versetzt zu werden? „Niklas P. Sieht Giacomo auf dem Nachhauseweg vom Schulbus. Giacomo biegt ein in die Straße seines Wohnhauses.“ Er setzt kurz ab um mit einer stakkatoartigen Betonung fortzufahren: „Schlüssel und Schulranzen nach zu urteilen, erreicht der Junge die Wohnung.“ Petroschko drehte sich um und ging mit einer halb leeren Wasserflasche in Richtung seines Schreibtisches: „Ich kann es immer noch nicht glauben! Wie kann der Junge sein Zuhause erreichen, dann aber verschwinden? Er hatte ja nicht einmal seinen Schlüssel mitgenommen und auch die Wohnzimmer- und Küchentüre waren verschlossen. Die einzige Möglichkeit, wie der Junge also aus seiner Wohnung verschwunden sein könnte, ist, indem sein Entführer, pardon, oder seine Entführerin, an der Tür geklingelt hat und er anschließend ohne Geschrei aus dem Treppenhaus heraus entführt wurde. Also jemand, aus seinem Umfeld. Oder er ist eben abgehauen. Ohne auch nur irgendetwas von zu Hause mit zu nehmen.“
„Schwachsinn“, murmelte der Kommissar in seinen nicht vorhandenen Bart hinein während er in der linken Hand einen Kugelschreiber mit dem Wappen der Landespolizei drehte. Nach den Berichten der Schule zufolge und auch aus allen Erzählungen die Giacomos Mutter, Kattner aufgelöst erzählt hatte, war Giacomo wirklich kein Junge der zum Weglaufen neigen würde. Behütetes Umfeld und ein eher unselbstständiger Junge, dieser wäre sicherlich längst wieder zurückgekehrt. Nun war immerhin schon mehr als eine Woche vergangen und selbst die freiwilligen Suchmannschaften der Dorfgemeinschaft hatten ihn nicht gefunden.
Spuren gab es keine. Niemand hatte etwas gesehen, niemandem war ein Auto aufgefallen und Einbruchsspuren fehlten auch gänzlich. Wie kann ein Kind plötzlich aufhören, zu existieren?
„Hast du die Bilder von SAR 13 abgehangen?“, fragte Petroschko in Richtung Kattners Schreibtisch, während er eine Tüte getrockneter Feigen aufriss. Dieser Gesundheitsfraß! Sogar um Zweiundzwanzig Uhr abends saß sein neuer Kollege auf dem Schreibtisch und trank nichts anderes als Wasser, während Kattner schon den dritten Kaffe seit seiner Abendmahlzeit in sich geschüttet hatte. Kein Wunder, dass dabei keine gute Polizeiarbeit herauskommt: „Ich wollte die eigentlich nochmal durchgehen“, seufzte Sergej. SAR 13, der Bereitschaftshubschrauber des nahegelegenen Luftwaffenstützpunktes wurde Kattners Team drei Tage nach Giacomos verschwinden zur Verfügung gestellt und fertigte viele Stunden Fotos und Wärmebilder über den Umliegenden Dörfern, Wäldern und sogar dem Kernforschungszentrum, über dem normalerweise eine Flugverbotszone herrschte, an. Ebenfalls ohne Ergebnis, da konnte Sergej diese Bilder noch so oft anstarren.
„Tu was du nicht lassen kannst“, entgegnete Kattner frustriert und deutete auf die überfüllte Ablage neben dem halbhohen Aktenschrank vor der drahtdurchzogenen Sicherheitsglaswand, die ihren Konferenzraum vom Flur trennte: „Aber nennen wir das Kind doch beim Namen. Wir tappen im dusteren. Im Stockdusteren!“, redete er sich in Rage, während er sich auf dem rot gepolsterten Bürostuhl zurücklehnte und die Rastereinbauleuchten anstarrte: „I-n-d-i-z-i-e-n“, buchstabierte Kattner: „Wir haben nicht den geringsten Hauch einer Spur! Der Junge kommt nach Hause und ist weg! Und selbst die Mutter, die, so Leid es mir auch tut, ja noch die naheliegendeste Täterin gewesen wäre, hat ein Alibi. Wieso sitzen wir überhaupt hier? Damals habe ich gelernt, das wir Spuren zusammen tragen sollten, Rettungs- und Suchmannschaften koordinieren sollten und das ganze Schema. Aber wir sitzen hier und starren eine Tafel an. Mir reicht es“. Ruckartig rutschte der Oberkommissar mit seinem Schreibtischstuhl zurück und ging zur Garderobe: „Ruf mich an wenn sich wider Erwarten etwas tun sollte.“ Kurze Zeit später ließ er seinen neuen sächsischen Kollegen zum dritten Mal diese Woche alleine im Konferenzraum der Sonderkommission. Sergej blieb immer länger. Ob er das tat weil er sich seiner Rolle als Außenseiter, der nicht so recht in das Team der fünf eingespielten Kommissare passte, bewusst war? An der Arbeitsbelastung konnte es schließlich nicht liegen. Es gab ja nichts zu tun.
„So, in zehn Minuten geht’s aber ab ins Bett“, ist das Erste, was Giacomo sagt, während die RTL-Melodie aus den Lautsprechern neben dem Fernseher dröhnt und die Werbung ankündigt. „Wer wird Millionär war echt witzig!“, stelle ich fest während ich auf dem bequemen, zotteligen Teppich vor dem Fernseher liege und den Legowaggon umbaue. Auf dem Sofa sitzen kann schließlich jeder! „Aber du hattest doch gesagt, bis viertel nach Zehn wenn ich schon gewickelt bin und meinen Schlafi anhab! Und diese Bedingungen habe ich erfüllt!“, verteidige ich mich, während ich zu dem langweilig wie ein Erwachsener auf dem braunen Ledersofa sitzenden Giaco hochschaue.
„Schau mal auf deine Armbanduhr!“, antwortet mir Giacomo, während er auf seine Uhr deutet, die er ebenso wie ich damals im Forschungszentrum bekommen hatte. Ach verdammt! Es ist ja Zweiundzwanzig Uhr Fünfzehn! Das erklärt dann natürlich auch, wieso „Wer wird Millionär“ zu Ende ist: „Aber ich bin doch noch gar nicht müde!“, antworte ich wahrheitsgemäß, stelle aber fest, dass das Giaci sicherlich nicht beeindrucken wird. Mist!
„Zehn Minuten!“, stellt Giacomo erneut als endgültiges Ultimatum während er sich neben mich auf den Teppich kniet und sich meinen Legowaggon anschaut. Natürlich nicht ohne mir auf meinen Pamperspo zu klopfen und durch meine Haare zu wuscheln. Eng umschließt die weiche, noch relativ dünne Windel meinen Schritt und Po, so wie es mittlerweile zum vertrauten Gefühl geworden ist. Frisch gebadet und in meinem flauschigen Bärchenschlafanzug liege ich auf dem Teppich und bin mir bewusst das man die Umrisse meiner nur leicht nassgepinkelten Pampers sehr gut durch die Schlafanzughose erkennen kann. Wie bei einem Kindergartenkind eben, ich muss mir keine Gedanken darüber machen, dass man meine Pampers sehen könnte und auch nicht darüber, ob mein Schlafanzug vielleicht etwas zu kindisch ist. Ich bin ein Kindergartenkind, das ist alles ganz egal. Eine überaus schöne Vorstellung in der ich mich dabei ertappe, durch und durch glücklich zu sein. Sogar die Pampers werden in dieser Vorstellung unwichtig und stellen nur noch eine notwendige Ausrüstung da, um nicht meine ganze Kleidung nasswerden zu lassen. Und wie auch ein Kindergartenkind muss ich gleich ins Bett. Das ist der Nachteil an der Sache. Menno.
„Cooler Wagen!“, stellt Giaco fest, während er die Türen auf jeder Seite öffnet und schließt sowie das Dach abnimmt um auf die Sitze der Passagiere zu schauen. Inklusive Tische und einem Badezimmer: „Sogar ein Bad! Hätte ich bei dir gar nicht erwartet!“, scherzt Giacomo. Na der Witz wird langsam aber auch alt! „Haha, sehr witzig! Wir können die restlichen Waggons ja morgen zusammen bauen!“, schlage ich meinem großen, bedauerlicherweise windelfreien Bruder vor, während selbiger den Waggon testweise hin und her schiebt und ich zur Werbung auf RTL hochschaue. Eine kleine Ziffer links in der Ecke zeigt an, dass es bald wieder weiter geht und zwar mit NCIS Los Angeles. Die Sendung gefällt Giaco augenscheinlich und so weckt sich in mir die Hoffnung, über die Serie könnte er meine Bettgehzeit verpassen. Denkste. Nach einiger Zeit, richtet sich Giacomo langsam auf und schaut mich auffordernd an. Mir ist klar, was er von mir will und ihm ist klar, dass mir das klar ist. Ich will wirklich überhaupt noch nicht ins Bett, wenn ich daran denke, jetzt ins Bett zu gehen, kommt ein mulmiges Gefühl in mir auf. Ich will nicht, dass dieser wirklich aufregende Tag zu Ende ist! Kurz überlege ich, mich gegen das ins Bett müssen zu wehren, aber ich kann spüren, wie Giacomo dann enttäuscht wäre. Oder könnte er es verstehen? Wie würde er wohl reagieren, würden wir uns vielleicht streiten?
„Ich will aber noch nicht! Echt noch nicht!“, probe ich die Rebellion.
„Was für ein Wunder!“, antwortet Giacomo erst einmal sarkastisch, ich kann aber erkennen, dass er sich überlegt, wie er darauf reagieren soll: „Morgen ist doch auch noch ein Tag!“, sagt er nach einer kurzen Denkpause.
„Morgen ist doch auch noch ein Tag!“, wiederhole ich spöttisch: „Und die Arbeit kommt vor dem Vergnügen!“, füge ich hinzu, woraufhin Giaco genau wie ich kichern muss. Ein Spruch, wie er auch von Mama oder Oma bekannt ist und von dem ich mir nicht hätte träumen lassen das mein großes Ich den Mal verwenden würde. Der wird aber auch alt!
„Oh man“, stellt Giacomo fest und grübelt wieder: „Aber weißt du, der Spruch stimmt! Wenn du ins Bett gehst und dann ein bisschen schläfst, wachst du morgen auf mit der Aussicht, dass du wieder einen kompletten Tag vor dir hast und nicht nur noch ein paar Minuten.“
„Ja toll“, antworte ich ein bisschen griesgrämig: „Und wenn das Problem das Schlafen ist? Das Einschlafen?“
„Ja“, antwortet Giacomo und fügt erst einmal nichts hinzu, er kennt mein Einschlafproblem ja immerhin aus, nunja, eigener Erfahrung: „Und was wäre deine Lösung? So wie mit dem aufs Klo gehen kannst du das nicht lösen, schlafen muss ein Mensch definitiv.“
„Gibt’s keine Schlaf-Pampers?“, scherze ich zurück und merke selbst, wie ich langsam müde werde: „Trägst du mich rüber?“, frage ich mit Hundeblick, während mein Kopf es sich bereits auf dem flauschigen Wohnzimmerteppich gemütlich macht. Echt praktisch, etwa mit dem Beginn der Grundschule konnte Mama mich ja nicht mehr ins Bett tragen, weil ich ihr augenscheinlich langsam zu schwer geworden war, Giacomo hingegen scheint allerdings auch mit meiner elfährigen Variante auf dem Arm keine Probleme zu haben und so finde ich mich ein paar Minuten später bereits in meinem Kinderzimmer wieder: „Meine Damen und Herren, wir haben unseren Endbahnhof, Unordnungshausen erreicht. Ihre nächsten Reiseverbindungen, Zug Einszweidrei ins Schlummerland und Zug Drölf nach Irgendwohin. Der Anschluss nach Toilettenhausen fällt heute leider aus“, lässt Giacomo verlauten während er mich vor der Leiter abstellt: „Schlaf gut! Und mach das Bett nicht zu nass“, neckt mich Giacomo noch einmal indem er mich an unsere Abmachung erinnert während ich meinen großen Bruder knuddele und anschließend die Hochbettleiter hochsteige, über die durch die Bettnässerunterlage leise knisternde Matratze krabbele und meinen Kopf schließlich in das weiche Kissen lege, die Augen Richtung Türspalt gerichtet, wo von draußen noch ein bisschen licht in mein Zimmer hinein schimmert. Die indirekte Leuchtdiodenbeleuchtung der am Hochbett befestigten Regale tut ihr übriges und so kann ich mich jedenfalls nicht darüber beklagen, dass es in meinem Zimmer zu dunkel wäre.
Ziemlich still ist es definitiv hier in meinem Zimmer. Kein bedrohliches, unlokalisierbares Knarzen, auch kein Uhu der vor dem Fenster herumuhut, keine Geräusche von der Straße. Und auch Giaco scheint grade ziemlich still zu sein. Was der wohl gerade macht? Lähmende Müdigkeit überkommt meinen angespannten Körper und so fallen mir langsam, ohne dass ich es verhindern kann, die Augen zu. Kurz ist es Dunkel, dann schlagartig wieder hell, denn ich schlage die Augen wieder auf. Die Dunkelheit macht mir Angst. In meinem Rücken fühlt es sich so an, als wäre hinter mir etwas, irgendetwas, das mir nichts Gutes Will. Jeden Moment könnte es aus der Wand hervorschnellen, so fühlt es sich an. Vielleicht lauert es grade im Treppenhaus hinter der Wand und bereitet sich auf den Angriff vor? Oder vielleicht kommt es aus einer anderen Dimension? Alles Quatsch, denn Monster gibt es nicht. So fühlt es sich allerdings gerade nicht an. Ein nur allzu vertrautes Gefühl von Angst und Müdigkeit mischt sich in meinem Körper, mein Herz schlägt schnell und meine Augenlider fühlen sich müde an und trotzdem traue ich mich nicht, sie zu schließen. So weit wie nur irgendwie möglich entfernt von der Wand liege ich im Bett, direkt vor mir der obere Balken des Hochbettes. Ich warte auf das abklingen der Angst, doch wie so oft ändert sich nichts. Das nicht vorhandene Monster greift natürlich nicht an und auch die Angst davor verschwindet leider nicht. Vor meiner Zeitreise bin ich in solchen Situationen meist zu meiner Mutter ins Wohnzimmer gegangen um ihr davon zu berichten, das ich nicht einschlafen kann. Das fand sie meist gar nicht toll und dementsprechend hatte ich auch Angst, im Wohnzimmer aufzukreuzen und stand für gewöhnlich häufig eine Stunde lang unschlüssig im Flur herum, unentschlossen zwischen dem Monster in meinem Zimmer und meiner wütenden Mutter im Wohnzimmer.
Aber wie gesagt, Monster gibt es gar nicht. Vorsichtig schiele ich zu besagter Wand, um mich zu vergewissern. Dunkel, Schwarz, Kahl. Ich muss sagen, dieser Blick hat mich jetzt nicht beruhigt. Es sieht aus wie eine Wand, aus der jeden Moment irgendetwas kommen könnte. Und auch aus dem Rest des Zimmers könnte etwas kommen! Nein, das geht nicht! Während leichte Panik in mir aufkommt, krabbele ich schnell aus meinem Bett zum rettenden Ausgang, springe die Treppe herunter und reiße die Tür auf und stehe … im stockdunklen, schwarzen Flur. Hektisch taste ich mit meiner linken Hand an der Wand entlang, auf der Suche nach dem Lichtschalter. Tapete, Tapete, Tapete, kalter Türrahmen. Da! Augenblicklich flammt das so ungewohnt grelle Licht auf und macht aus dem Flur einen ganz gewöhnlichen, nun ja, Flur. Langsam mache ich die Tür zu Giacomos Zimmer auf und stecke meinen Daumen in den Mund. Eigentlich bin ich echt kein Daumenlutscher, nachdem die Schnullerfee mir damals mit fünf Jahren meine Schnullis weggenommen hat, habe ich eigentlich an nichts mehr genuckelt, aber das Daumenlutschen ist für mich ein Zeichen, das ich der kleine Felix bin. Der Kindergarten-Felix. Bei dem es auch nicht schlimm ist, wenn er mal nicht einschlafen kann. Mit 11 bin ich ja eigentlich echt zu alt, um Angst im Dunkeln zu haben. Aber als sechsjähriges Kindergartenkind? Voll in Ordnung.
„Kann nicht einschlafen“, sage ich leise und stecke meinen Daumen direkt im Anschluss wieder in dem Mund.
„Ohhhhhhh“, stellt Giacomo mitleidig fest. Natürlich weiß er, wie es mir grade geht: „Kannst bei mir schlafen, kleiner“, antwortet er in einer für ihn besonders ruhigen Stimme: „Ich wollte eh grade ins Bett gehen“, präzisiert er, während er seine beiden Monitore und den Laptop ausschaltet und vom Schreibtisch aufsteht: „Aber Felix, wie oft hab ich dir das mit dem Daumennuckeln schon gesagt? Das ist nicht gut für deine Zähne!“, belehrt er mich während er leicht an meinem rechten Arm zieht und somit meinen Daumen aus meinem Mund entfernt.
„Ich will aber!“, gebe ich beleidigt zurück. Wie gesagt, eigentlich bin ich kein Daumenlutschfan, aber jetzt grade fühlt es sich so an als würde mir ohne das Nuckeln etwas fehlen. Nur wenige Sekunden später landet dementsprechend mein linker Daumen in meinem Mund, denn der rechte Arm ist ja immer noch durch Giacomo blockiert.
„Ach Felix“, meint Giacomo, wobei ich die Enttäuschung aus seiner Stimme heraushören kann, gleichzeitig klingt es aber so, als hätte er aufgegeben. Ich nuckle weiter, während Giaco mir durch die Haare wuschelt. Dann allerdings zieht er mir den Daumen wieder aus dem Mund woraufhin ich unwillkürlich leise knurre: „Eyyyyy!“. Bevor ich mich allerdings weiter beschweren kann, steckt schon wieder was in meinem Mund, Kein Daumen, etwas größeres, aus Gummi oder so. Einen … Schnulli! Reflexartig fange ich an, an selbigem zu nuckeln. Oh mein Gott, wie habe ich das denn vermisst! „Fanke“, antworte ich. Das sollte eigentlich danke heißen, aber, naja, so ist das halt mit Schnullersprache. Ich wollte meine Schnullis ja eigentlich nie hergeben, genau wie meine Windeln. Jetzt habe ich beides wieder, und ich muss sagen, Schnullis habe ich die ganze Zeit total vernachlässigt! Windeln sind super cool, ja, aber Schnullis absolut auch! Wie konnte ich das nur vergessen! Apatisch stehe ich im Raum rum und mache nichts anderes als am Schnulli zu nuckeln während Giacomo das Gästebett wieder aufklappt, und anschließend mein Kissen und meine Bettdecke aus meinem Hochbett herüberholt.
„Sag mal wie nass ist die Pampi denn schon? Meinst du, du schaffst es, das Bett trocken zu lassen diese Nacht?“, fragt Giacomo mich, woraufhin ich nur mit den Schultern zucke: „Weis nis“, antworte ich nur, weshalb Giaco meine Schlafanzughose an der Vorderseite nach außen zieht und so einen Blick auf meine Pampers bekommt: „Boah, noch fast trocken! Ja das reicht ja noch lange! Aber super, dass die noch fast trocken ist! Wenn das so weiter geht brauchst du bald gar keine Pampers mehr, kleiner!“, lobt Giaco mich während ich langsam ins Gästebett krabbele und dabei plötzlich deutlich spüre, das ich dringend mal aufs Klo müsste. Instinktiv bleibe ich mitten in der Bewegung stehen und lasse das ganze Pipi was ich unbewusst während der Anspannung des Abends aufgestaut habe, in meine Pampers laufen. Kurz darauf wird mir bewuss, das ich nun wirklich auch noch ein paar Sekunden hätte warten können und dann einfach unauffällig im Liegen in die Windel hätte pullern können. Hm, irgendwie passt das aber doch zum kleinen Felix, oder? So allerdings muss Giacomo sein Lob direkt wieder einschränken: „Naja … du lernst es schon noch!“, lacht er: „Und du hast ja ne Pampers an, dazu sind die ja da!“, beschwichtigt er mich und hat offensichtlich ebenfalls Gefallen an dem kleiner-Felix-Spiel
„Ich hab Duuuuuuurst“, quengele ich: „Kann ich einen warmen Kakao zum Einschlafen haben?“, frage ich Giacomo während dieser sich grade sein eigenes Bett zurechtmacht.
„Wie heißt das?“, fragt Giacomo allerdings ohne Erbarmen zurück: „Bitteeeeeee!“, antworte ich während ich mich in das weiche Gästebett und meine frisch warmgewordene Pampers kuschele und mich dem Gefühl des schnullinuckelns hingebe. Sehr interessiert es mich, wo Giacomo den Schunller wohl her hat und ebenfalls interessiert es mich, wie der wohl aussieht und wie wohl ich mit Schnulli im Mund aussehe, allerdings bin ich grade viel zu entspannt um mich zu bewegen. Also abgesehen vom nuckeln natürlich! Während ich ungeduldig auf meinen Kakao warte, rotiere ich mit meiner Zunge den Schnulli einmal um sich selbst, schließe währenddessen langsam die Augen und mümmele mich in mein riesiges, weiches Kissen ein. Beinahe drifte ich ins Reich der Träume ab, bevor sich die Zimmertüre wieder öffnet und Giacomo mit meinem Kakao reinkommt. Ich will mich schon aufrichten um den Kakao vernünftig trinken zu können als ich bemerke, dass ich mir das wirklich sparen kann. Eine Nuckelflasche. Mehr noch, sogar meine Nuckelflasche von früher! Da gebe ich doch sogar meinen Schnulli für her! Schnell nehme ich den Schnulli aus meinem Mund und lege ihn auf das Kissen neben mir, um nur kurz darauf wieder weiter zu nuckeln. Diesmal aber an der Kakaoflasche. Warmer, süßer Kakao läuft aus der Trinkflasche während ich an selbiger sauge, schön süß und, wie es mir scheint, mit extraviel Kakaopulver zubereitet. Wobei ich sagen muss, dass es ja doch ein bisschen anstrengend ist, aus so einer Nuckelflasche zu saugen. Naja, da muss man wohl durch als modernes Kleinkind, hm?
Während Giacomo mich noch vollständig zudeckt, schließen sich meine Augen für diesen Tag nun endgültig und ich schlafe wenig später endgültig ein, während ich weiter langsam an der Trinkflasche nuckle. Monster sind grade komplett irrelevant.
Durch ein stechendes Gefühl in der Blase wache ich irgendwann wieder auf. Klarer Fall, ich muss verdammt dringend aufs Klo. Ist ja auch logisch, denke ich, als ich die links auf dem Kopfkissen neben mir liegende, fast leere Kakaoflasche sehe. Mmmmmh, lecker, Kakao! Umständlich friemele ich meinen linken Arm aus der verwurschtelten Decke und greife nach der Kakaoflasche, um auch noch den Rest leerzutrinken, stoße die Flasche aber vom Kissen runter neben meine Hüften. Während ich, offensichtlich noch schlaftrunken versuche, die Flasche aus den Untiefen meines Bettes hervorzuholen, wird es in meinem Schritt bereits warm und nass! Eyyy! Eigentlich wollte ich meine Pampers warm werden lassen während ich genüsslich den Kakao trinke und nicht schon jetzt, aber dieser Plan ist wohl so eben, hihi, in die Hose gegangen. Hab ich mir grade echt in die Hose gemacht? Hm, irgendwie peinlich. Aber im Prinzip natürlich egal, denn so schnell habe ich bekanntlich nicht vor, meine Windeln wieder herzugeben. Während das ganze über Nacht aufgestaute Pipi weiter in meine durstige Pampers sprudelt, schaffe ich es schließlich doch noch, den restlichen Kakao aus der Nuckelflasche zu trinken. Leider ist der mittlerweile schon kalt geworden, aber das ist natürlich auch ziemlich logisch.
Langsam krabbele ich aus meinem Bett und will mich auf den Weg ins Wohnzimmer zum Samstagsmorgen-Kinderprogramm von ARD und ZDF machen. Halt, Stopp, da war doch noch was! Der Schnulli! Die Gefühle von gestern Abend kommen wieder hoch, der Nucki in meinem Mund. Sofort drehe ich mich wieder um und schaue auf mein nun leeres Gästebett. Aufgeregt suche ich den blauen Schnulli, greife unters Kopfkissen, werfe die Decke bei Seite und schaue neben dem Bett. Verdammt, wo ist der denn! Ja, ich will den Schnulli grade ziemlich sehr. Ob Giacomo ihn weggelegt hat? Der schläft allerdings noch, und wie es scheint auch ziemlich tief und so suche ich lieber weiter, bevor ich meinen großen Bruder aus dem Schlaf reiße. Oder sollte ich als Ersatz vielleicht einfach das Saugteil der Nuckelflasche nehmen? Bevor ich das allerdings ausprobieren kann, finde ich meinen blauen Nucki doch noch. An der Wand unterm Bett liegt er und leuchtet vor sich hin, nur darauf wartend, das ich ihn endlich wieder in den Mund nehme. Naja, glaube ich jedenfalls.
Fasziniert halte ich den fluoreszierenden Schnuller erst einmal in der Hand und drehe ihn umher. Ist mir gestern gar nicht aufgefallen, dass der leuchtet! Aber gut, wie sollte es auch, denn ich hatte das blaue kleine Ding gestern ja auch nur im Mund während das Licht im Zimmer noch an war. Ziemlich cool jedenfalls, jetzt hab ich einen Schnulli der im dunkeln Leuchtet, dass ist wohl das coolste Gegenmittel gegen Dunkle Räume was man sich vorstellen kann! Oder? Naja, wenn der Schnulli Laserstrahlen schießen würde wäre das definitiv noch cooler, aber das kommt schon nah dran.
Während ich meinen neuen Schnulli von allen Ecken und Enden begutachte und schließlich wieder in meinem Mund stecke, kommt die Frage in mir auf, wo Giacomo den gestern wohl hergezaubert hat. Und die Nuckelflasche wohl auch. Ob er wusste, dass ich das haben will? Aber woher sollte er, das wusste bis gestern ja nicht mal ich selbst. Oder hatte er die Dinger schon länger, genau wie die Drynites und so? Das ist vermutlich das wahrscheinlichste, auch wenn Giacomo der Schnulli vermutlich eher etwas zu klein sein dürfte. Während ich den Legozug mitsamt einer der Bausteinschubladen aus meinem Zimmer ins Wohnzimmer verfrachte und anschließend den Fernseher anschalte, frage ich mich, ob das vielleicht dasselbe ist wie bei mir. Mir macht es ja seit ein paar Tagen ab und zu Spaß, Felix zu spielen. Naja gut, ich bin Felix, schon klar. Aber ihr wisst schon! Den kleinen Felix, das Kindergartenkind halt. Da gehören dann natürlich auch der Schnulli und die Nuckelflasche dazu, die Pampers natürlich sowieso. Hat Giaco also Schnulli und Flasche, weil er auch gerne ab und zu den kleinen Felix spielt? Könnte das wirklich sein? Eine merkwürdige Vorstellung, so ein Jugendlicher, der so tut, als wäre er ein Kindergartenkind. Andererseits ist er ja Ich, nur sieben Jahre älter und wenn mir das Spaß macht, ist es ja nur logisch, dass es ihm auch Spaß machen dürfte. Während der Tigerentenclub über den Flachbildschirm flimmert, spinne ich diesen Gedanken weiter. Eigentlich kam die Lust am Kindergartenspielen bei mir ja erst nach der Zeitreise auf, weshalb ich dachte, dass das ja nur mir und nicht auch Giacomo so gehen dürfte. Aber was, wenn das früher oder später auch ohne die Zeitreise passiert wäre?
Eine Zeit lang denke ich noch weiter darüber nach und wie das vielleicht wäre, wenn mein großer Bruder auch Spaß daran hätte, ein kleines Kind zu sein, bis das Thema schließlich immer mehr in den Hintergrund rückt und sich meine Aufmerksamkeit stärker dem Legozug und dem Tigerentenclub widmet.
„Meine Damen und Herren auf Gleis 2, Vorsicht, der Zug wird geteilt. Wagen eins verkehrt weiter als Regionalexpress nach Sofen, Wagen zwei und drei fahren als Intercity nach Küchenhausen“, schallt es über die Lautsprecher von Gleis 2. Ein paar verwirrte Reisende steigen noch aus dem ersten Waggon aus, vermutlich weil sie doch Richtung Küchenhausen wollen. Der Schaffner weißt ihnen den Weg, während der kleine Gepäckwagen kommt und deren Gepäck auflädt um es in den zweiten Gepäckwagen des Zuges umzuladen. Ein besonderer Service von Lego Railways, die Gepäckverladung, denn so sparen sich die Reisenden das mühselige schleppen der Koffer. Während der Gepäckverladungswagen über den mittleren Bahnsteig rollt, schlüpft bereits einer der beiden orange gekleideten Rangierer zwischen die Puffer der beiden Wagen um die Magneten, die beide Zugteile zusammen halten, zu lösen. Währenddessen rückt von der anderen Seite des Bahnsteiges bereits die aus Produktionsmittelmangel in Legohausen recht bunt gewordene Rangierlokomotive an und rollt langsam an die Vorderseite von Wagen 1 heran, woraufhin sich der Kollege des Rangierers zu eben diesem Ort aufmacht. Per Funk funkt der Lokführer der Rangierlokomotive den Arbeiter an und gibt ihm durch, wie er den Wagen anzukuppeln hat.
Die Gepäckumladung ist mittlerweile auch abgeschlossen und auch alle Reisenden sind im für sie richtigen Zugteil angelangt, weshalb der Schaffner nun etwas Zeit hat und noch schnell zum Restaurant in der ersten Etage des Bahnhofsgebäudes läuft und sich einen Kaffee holt. Zum Glück ist im Restaurant grade eher wenig los und so ist der Schaffner wieder unten auf dem Bahnsteig vor seinem Zug, bevor die beiden Zugteile vollständig getrennt sind. Lange dauert es allerdings nicht mehr und so pfeift der Schaffner schon mal in seine Pfeife und steigt in den hinteren Wagen des Intercity-Zugteils ein während sich nun die Rangierlokomotive am anderen Zugteil langsam rückwärts in Bewegung setzt und den hinteren Wagen von den anderen beiden entfernt und kurz darauf der Intercity sich mit voller Kraft vorraus auf den Weg Richtung Küchenhausen macht.
„Guten Morgen, Kleiner!“ Huch? Was war denn das? Ich schrecke aus meinem Spiel auf und schaue nach oben. Scheint so, als wäre mittlerweile auch Giacomo aufgestanden.
„Moafn“, antworte ich, wobei mir auffällt, dass ich ja immer noch an meinem Schnulli nuckele. Den hatte ich ja vollkommen vergessen! „Fillft fu mifpielen?“, frage ich Giaco und gehe davon aus, dass er meine Schnullisprache schon irgendwie verstehen wird. „Wenn du mich so fragst … gerne!“, antwortet dieser und kniet sich neben mich auf den Teppich: „Aber nimm besser mal den Schnulli aus dem Mund, Mama steht auch gleich auf!“, fügt er an und nimmt mir den Schnulli aus dem Mund bevor ich irgendwas dagegen sagen kann. Er hat ja recht! Aber ich will nicht: „Eyyyyy!“, antworte ich ohne darüber nachzudenken: „Gib wieder her!“
„So schlimm?“, kichert Giaco während er in mein betrübt dreinblickendes Gesicht schaut. Nein, eigentlich natürlich nicht. Oder doch? „Weiß nicht. Ich fand meinen Schnulli früher schon immer cool. Ist echt ein schönes Gefühl, weißt du?“, antworte ich Giacomo während selbiger die Zugteilung weiterführt und die Rangierlokomotive mit dem dritten Wagen langsam rückwärts aus dem Bahnhof herausfährt. Nach ein paar Sekunden, in denen niemand etwas sagt weil der Große scheinbar grade überlegt was er sagen soll, fallen mir meine Überlegungen ein, die ich nach dem Aufstehen hatte: „Das weißt du, oder? Das ist doch dein Schnulli, oder?“, löchere ich ihn jetzt offensiv. Brudi, du bist entlarvt!
„Naja, also, man könnte sagen“, setzt Giacomo an, bricht dann allerdings wieder ab: „Ja.“
„Wieso hast du den?“, frage ich gespannt während Giaco das ganze scheinbar ein wenig peinlich ist. Vor seinem eigenen jüngeren Ich! Weichei! „Ach komm, vor mir muss dir das doch nicht peinlich sein!“, schiebe ich noch nach und während ich das sage fühlt sich das an als wäre das eher etwas, was Giacomo zu mir sagen würde und nicht umgekehrt.
„Naja, er gefällt mir halt!“, antwortet er, ein wenig als müsste er sich grade verteidigen, während er die Rangierlokomotive nervös hin und her schiebt. Grade kommt er mir irgendwie nicht so groß und erfahren vor wie sonst sondern mehr wie, naja, mehr wie ich. Wie ein kleiner Junge, der mit der Welt doch noch nicht so gut zurecht kommt wie er immer denkt.
„Du willst auch manchmal der kleine Felix sein, oder?“, frage ich ihn schließlich. Als Antwort kommt erstmal nur ein verlegenes Lächeln. „Spucks aus!“, füge ich in routinierter Detektivmanier an, was ihn allerdings weniger zum Reden als mehr zum Lachen bringt.
„Naja, so in etwa“, antwortet mir Giacomo anschließend aufgeheitert: „Also der kleine Felix will ich natürlich nicht sein, der bist du ja schon. Eigentlich will ich der kleine Giacomo sein. Also ne, irgendwie auch nicht. Manchmal wäre ich gerne ein Grundschulkind, das immer noch Windeln trägt. Im Prinzip wie der kleine Felix, nur ein paar Jahre älter. Neun, um genau zu sein.“
Neun, hm, ja. Bevor Papa starb. Irgendwie naheliegend, auch wenn die Vorstellung eines windeltragenden Neunjährigen verdammt unrealistisch ist. „Und deshalb hast du den Schnulli?“ kombiniere ich: „Aber das ist doch eher unrealistisch, ein Neunjähriger in Schnulli und Windeln?“
„Ey guck disch doch mal an!“, antwortet der große Giacomo mir und verstellt seine Stimme dabei absichtlich: „Scheint auch Elfjährige zu geben, die das machen.“
Da hat er wohl recht: „Stimmt. Also du wärst gerne ein Neunjähriger in Windeln, der ansonsten ganz normal ist? Ach, ja, und einen Schnulli hat der kleine Giaci scheinbar auch noch. Wobei, gerade ja nicht, denn im Moment hab ich den ja!“, antworte ich und drehe dabei den Schnulli in meinen Händen.
„Naja, den Schnulli trägt er ja nur manchmal, genau wie du“, antwortet Giacomo als ginge es um eine dritte Person.
„Also genau wie ich!“, stelle ich fest. Windeln und Schnuller und ansonsten, naja, wie ein neunjähriger Giacomo halt. Also genau wie ich vor 2 Jahren. Hätte ich diese Zeitreise nur etwas mehr als ein Jahr früher gemacht, wäre ich wohl die perfekte Entsprechung des kleinen Giacomos gewesen. Und ob der Unterschied zwischen dem neunjährigen Giacomo und seinem elfjährigen Pendant so groß ist? Mir fällt ein, wie Giacomo mich im Ikea-Spieleland als Neunjähriger vorgestellt hatte: „Aha, deshalb hast du also im Smalland gesagt, ich wäre erst neun!“, stelle ich aufgeregt fest.
„Hm, ne, das hab ich eigentlich nur gemacht, um dich ein bisschen aufzuziehen“, antwortet Giacomo: „Aber ja, im Prinzip genau wie du. Also ein klein bisschen jünger natürlich. Wobei der kleine Giaci die Windeln ja wirklich braucht im Gegensatz …“
Ich unterbreche den großen: „Ja und, der kleine Felix doch auch!“, werfe ich ein als ginge es hier um einen Wettkampf und wer seine Windeln am meisten braucht.
„Jaaaaaa, aber der große Felix nicht“, antwortet Giacomo während er mir in den Bauch piekst: „Wobei, wenn ich mir das so anschaue, bin ich mir da nicht mehr ganz so sicher.“
Gute Frage eigentlich. Heute Morgen jedenfalls wäre mein Bett wohl ziemlich nass geworden wenn ich nicht die Pampers gehabt hätte und in der Schule im Sekretariat war das wohl ebenso. Naja, wirklich gut im Einhalten war ich ja eigentlich noch nie, aber verbessert hat sich das in letzter Zeit jetzt auch nicht grade. Ob das schlimm ist? Ich weiß es nicht.
„Du bist doch nur neidisch!“, antworte ich meinem skandalös ungewindelten großen Bruder während ich mir vorne meine nasse Pampi quetsche. Hoppala, war die immer schon so nass?
Ist ja wirklich verdammt feucht, da unten!
„Achwas“, antwortet Giaco obwohl ihm klar sein müsste, dass ich weiß, was er grade denkt.
„Gib es zuuuuuuuu“, beharre ich auf meiner Einschätzung: „Niemand weiß das besser als ich.“
„Mmmmmmmh, vielleicht“, antwortet der Große dem es offensichtlich Spaß macht, mir keine klare Antwort zu geben.
„Ach komm schon! Das wär doch so cool wenn wir beide in Windeln wären!“, nerve ich ihn weiter und bemühe mich, dabei möglichst niedlich zu schauen. Nicht der einzige in Windeln zu sein wäre wirklich mal was Neues und wenn Giacomo der andere wäre, wäre das vermutlich echt super.
„Ach“, sagt Giacomo nun nachdenklich: „Wäre vielleicht wirklich cool. Aber um ehrlich zu sein, hab ich im Moment eigentlich überhaupt keine Lust auf Windeln.“
„Wie geht das? Welchen Grund gibt es, keine Windeln zu tragen? Die haben verdammt noch mal nur Vorteile!“, beharre ich und kann das wirklich nicht so recht nachvollziehen.
„Naja“, antwortet Giacomo zögerlich, so als würde er nach Gegenargumenten suchen, ich unterbreche ihn aber bevor er seine Ausreden vortragen kann: „Die Dinger haben nur Vorteile! Du musst nicht andauernd aufs Klo gehen, sie fühlen sich gut an, sie sind weich, sie fühlen sich gut an, sie fühlen sich gut an und erwähnte ich, dass die sich echt gut anfühlen?“, trage ich ihm vor und werde dabei wohl ein bisschen sehr enthusiastisch und laut.
„Psssssssst“, bringt Giacomo mich wieder runter und legt eine Hand auf meine Schultern: „Ja gut. Aber dafür muss man sich auch wickeln und man muss darauf achten das einen keiner damit sieht und das alles“
„Ja also komm das wickeln braucht ja wohl viel weniger Zeit als das andauernde aufs Klo gehen!“, berichtige ich Giaco. Aber wenn es darum geht, dass das ganze keiner sehen darf, dann hat er vermutlich Recht. Mehr aus Versehen als absichtlich ist das ja bei mir mittlerweile eher so geworden, das ich mich nicht mehr drum kümmere, ob einer meine Pampers sieht, oder nicht. Fabi weiß das eh, Mama auch, Giacomo auch und Karl und die anderen Freunde von Giaco wohl auch wie er sagte. Achja, und Thomas. Also eigentlich jeder, den ich außerhalb der Schule so kenne. Ist das schlimm? Irgendwie ja schon, denn es ist eigentlich schon verdammt peinlich für einen Elfjährigen, noch in Pampers zu stecken. Andererseits fühlt es sich nicht so an. Niemand hat bisher irgendetwas gegen meine Pampis gesagt. Naja, außer Fabi vielleicht mal, aber der hat sich ja entschuldigt. Der kleine Felix würde seine Pampers auch nicht verstecken, wieso sollte ich das also? Wobei, außer in der Schule vielleicht. Und vielleicht auch vor Robin? Ach ist doch auch egal! Jedenfalls ist das keine Ausrede, keine Windel zu tragen, Giacomo.
„Ach das sind doch alles nur Ausreden!“, stichele ich weiter: „Wieso machst du das nicht? Traust du dich nicht? Ist dir das etwa peinlich? Wiesoooooooo denn?“
„Feeeeeeeeelix, du nervst!“, antwortet Giacomo statt mir auf meine Fragen zu antworten und steht dabei vom Teppich auf.
„Das ist mein Schicksal!“, antworte ich süffisant und zitiere dabei Nerv von den Wilden Kerlen, was sowohl mich als auch den großen Windelverweigerer zum Lachen bringt. „Ach Felix!“, antwortet dieser darauf nur. „Gib es zu, du traust dich nicht!“, beharre ich aber.
„Ich mach dann mal Frühstück“, bekomme ich darauf als Antwort während Giacomo meinen Schnulli in seine rechte Hosentasche steckt und mich anschließend verwundert im Wohnzimmer zurücklässt. Habe ich da etwa einen wunden Punkt in meinem Bruder gefunden? Also eigentlich in mir? Hääää?
Autor: giaci9 (eingesandt via E-Mail)
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