Zweite Chance (2) – Kapitel 7
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Kapitel 7 – Das Ende der Rebellion
„Ui!“, sind die ersten Worte, die aus meinem Mund kommen während mich meine Mutter weckt. Es ist Mittwoch, irgendwann im Jahre 2014. Mein erster Schultag dieses Jahr! Und auch mein erster Schultag dieses Jahrzehnt! Witzig irgendwie. Giacomo meinte, meine Schule hätte sich viel verändert in den letzten Jahren und zwar zum Besseren. Eigentlich wollte er mir das auch noch genauer erklären und mir einen selbstgemachten Film erklären aber dafür hatten wir dann keine Zeit mehr. Gestern waren wir ja schon in der Schule, um mich anzumelden. Das riesige Gebäude im Park steht immer noch so ähnlich wie früher, einige Gebäudeteile sind dazugekommen und hauptsächlich wurde die hässliche graue Farbe aus den siebziger Jahren gegen giftiges Grün und schwules Rosa ausgetauscht. Sieht irgendwie aus wie auf einer Grundschule und das neue Klettergerüst, die Rasenfläche und die Stehbänke tun ihr übriges um diesen Eindruck noch zu verstärken. Sehr viel einladender jedenfalls als der graue Bunker den meine Schule noch vor ein paar Tagen in meinem Leben war! Das und der Fakt dass ich in jeder Pause zum großen Giacomo gehen kann, falls ich Probleme habe, führen dazu, dass ich mich gefühlt das erste Mal seitdem ich auf die weiterführende Schule gekommen bin, wieder auf einen Schulalltag freue.
Aufgeregt krabble ich durch mein famoses Hochbett und springe anschließend meine Leiter herunter: „Guten Morgen, Mama !!!“, sage ich und bemerke dabei ein weiteres Detail: Ich trage eine Pampers! Stimmt ja, da war ja was. Wie viele Tage trage ich jetzt Windeln? Wenn ich richtig mitgezählt habe, noch nicht einmal eine Woche und trotzdem kommen sie mir häufig so gewohnt vor als wäre ich nie aus den Windeln heraus gewesen. War ich aber und deshalb pinkle ich mir meist auch nicht unbemerkt in die Windeln sondern bemerke einen gewissen Druck auf meiner Blase bevor ich mich spontan entschließe loszupinkeln. Da ich aber seit fünf Jahren auch kein Bettnässer mehr bin, worüber ich mich damals grotesker weise ja sogar gefreut habe, pinkle ich vor allem die Nacht über nicht, was nun dazu führt, das ich ziemlich dolle muss.
Wie Ferngesteuert gehe ich ins Badezimmer und ziehe meine Schlafanzughose runter, bis mein Blick erneut auf die Windel fällt. Ich fange an zu kichern: Was mache ich da grade bloß? Die Macht der Gewohnheit! Ich glaube ich bin wohl doch noch ein bisschen verschlafen. Mit immer noch sehr starkem Harndrang ziehe ich meine Schlafanzughose wieder über meine halbvolle, ausgebeulte Pampers und laufe zum Frühstück in die Küche. Diese Pampers sehen echt süß aus!
„Gibt es Cornflakes?“, frage ich gespannt.
„Äh nein, tut mir leid“, antwortet meine Mutter mitleidig: „Die haben wir schon lange nicht mehr. Wenn du willst können wir die aber wieder kaufen. Ich kann dir ein Marmeladenbrot schmieren, wie wäre es damit?“
Verdammt, jetzt muss ich ja antworten, stelle ich fest. Eigentlich recht einfach, nur habe ich grade nachdem ich mich auf meinen Küchenstuhl gesetzt hatte, angefangen, endlich das Ganze in der Nacht aufgestaute Pipi in meine Windel zu pinkeln. Habt ihr schon mal probiert, während ihr grade in die Windel pinkelt, auf eine Frage eurer Mutter zu antworten? Ich spüre grade wie meine Windel bedingt durch die besonders hohe Menge Flüssigkeit schlagartig sehr warm und nass wird. Unwillkürlich fahre ich mit meiner rechten Hand in meinem Schritt: „Mmmh“, antworte ich meiner Mutter und füge nach einer Konzentrationspause hinzu: „Ja, das wär supi.“ Meine Mutter scheint meine Antwort vorausgesehen zu haben und hat sich schon daran gemacht meine Marmeladenbrote zu schmieren und lässt mich zum Glück unbeobachtet sodass ich meine Beine leicht auseinanderdrücke um besser pinkeln zu können und auf meinem Stuhl zusammensacke.
„Wo ist denn eigentlich Giacomo?“, frage ich schließlich meine Mutter nachdem ich mit dem pieseln endlich fertig geworden bin. Wenn ich die Uhr da an der Wand richtig interpretiere und Uhren im Jahre 2014 immer noch so gut funktionieren wie vor sieben Jahren dann müssen wir in einer Viertelstunde schon zum Bus gehen!
„Ach, das kannst du ja gar nicht wissen!“, sagt meine Mutter belustigt: „Der kommt fast immer zu spät zum Frühstück weil der erstmal wach werden muss, duscht und sich dann anzieht. Gewöhn dich besser dran!“
„Oh, achso! Dann müssen wir uns wenigstens nicht um unseren Küchentischplatz zanken!“, sage ich erfreut und fange an, meine Kakaotasse leerzuschlürfen. Jaja, dieses leckere Milchgetränk, bald wird auch dieses in meiner Pampers landen! Besser gesagt in der Drynites, aber egal. Die nächsten Minuten vergehen so als hätte es nie eine Zeitreise gegeben und als wäre es noch wie früher, meine Mutter und Ich frühstücken, reden über unseren bevorstehenden Schultag und meine Mutter ermahnt mich, heute in der Schule gut aufzupassen. Fast könnte ich denken, ich hätte alles nur geträumt, würde nicht Giacomo nach fünf Minuten in die Küche hereinkommen. Er trägt ein Hellblaues Hemd, eine helle Hose, seine Haare sind noch leicht nass und er hat ein Handtuch um seine Schultern. Der sieht irgendwie richtig groß aus so, oder liegt das an mir?
„Na das ist ja mal früh!“, stellt meine Mutter fest und klingt nicht so als würde sie das als Scherz meinen.
„Ja, neuer Rekord! Ist ja auch erst erster Schultag nach den Ferien, mal schauen ob das so bleibt.“, sagt er lachend und nimmt sich einen Kaffee. Wie kann man das Zeug nur trinken? Die Geschmacksnerven gehen vermutlich kaputt wenn man in die Pubertät kommt, kann das sein? Statt sich zu setzen bleibt Giaco allerdings an der Küchentheke angelehnt stehen: „Mein Platz!“, faucht er grinsend in meine Richtung und schlürft seinen Kaffee noch etwas weiter bis er seine Tasse anschließend halbvoll auf der Küchentheke abstellt: „So Lexi, komm!“
„Wie jetzt, wir haben noch sieben Minuten!“, antworte ich entrüstet. Hier ist es grade so schön gemütlich und kuschelig, muss ich heute wirklich zur Schule? Och nöööö!
„Ja, stimmt!“, antwortet Giacomo, grinst und macht mit seiner rechten Hand eine kreisende Bewegung: „Also vorausgesetzt du willst in Schlafanzug und Nachtwindel zur Schule gehen. Würde ich dir aber nicht empfehlen, ist nicht nur etwas kalt sondern auch ziemlich peinlich glaube ich. Aber probiers ruhig aus!“
Dieser Witzbold: „Ist ja schon gut, ich komm ja!“, antworte ich und tapse dem Großen ins Bad hinterher wo ich mich auf die zu meiner Überraschung schon ausgebreitete Wickelunterlage lege. Schnell zieht Giacomo mir die Schlafanzughose aus, macht meine Pampers auf und wirft sie zielsicher in den Mülleimer: „Die ist ja ganz schön warm!“, stellt er grinsend fest.
„Jaaaa, ich weiß! Ich musste heute Morgen voll viel und hab eben erst reingestrullert!“
„Ah, cool“, antwortet Giacomo grinsend, wischt schnell meinen Po mit den Feuchttüchern sauber und holt anschließend eine der blauen Drynites aus dem gestern erst aufgefüllten Windelregal. Zack, Creme drauf, Pullup hochziehen, dann folgen recht schnell das Unterhemd und die die Windel verhüllende Boxershorts, eine ganz normale dunkelblaue Jeans und ein orangeschwarzes Sweatshirt was aussieht wie ein Sweatshirt über das man noch ein Tshirt angezogen hat.
„So kleiner, schon fertig“, sagt Giacomo während er mir vom Badezimmerboden hochhilft: „die Socken ziehst du dir besser alleine an, ich glaub das kannst du besser als ich. Kritisch schaut er mich an: „Dreh dich mal grade um“, er zieht mein Shirt leicht hoch: „Ok, ich glaube so entdeckt nie im Leben jemand dass du ne Windel anhast, da bin ich zuversichtlich.“
„Danke, Brudi!“, sage ich aufgeregt, umarme den großen Windelexperten, bekomme einen Klaps auf meinen perfekt getarnten Windelpo und renne anschließend in mein Zimmer um mir meine Socken anzuziehen. Müssen das eigentlich zwei gleich aussehende sein? Ist doch eigentlich egal!
Wenig später befinde ich mich schon auf dem Weg zur Bushaltestelle, auf dem Rücken meinen neuen Dakine-Schulranzen mit neonblauen Reisverschlüssen und Karomustern in allen möglichen Blautönen. Giacomo meinte, solche Taschen wären jetzt cool als wir gestern noch eilig meine Schulsachen eingekauft hatten.
„Beeil dich mal was mehr!“, fordert Giacomo mich auf während ich langsam zurückfalle und mir die Straße, die ich so oft schon entlanggelaufen bin, genauer anschaue. Ich muss sagen, viel hat sich nicht verändert. Die Autos sehen moderner aus, die Häuser aber immer noch genauso alt, sogar die Barriere vor der kleinen Fußgängergasse links von mir ist immer noch genauso rostig wie früher, ein großer Unterschied zu meiner Schule, bei der sich ja scheinbar fast alles verändert hat. Ich beeile mich nun, dem Großen zu folgen und finde mich kurz darauf auch schon im Bus wieder wo wir beide den Zweierplatz hinter der Fahrerkabine geentert haben.
Je näher der Bus, mit dem tiefen Grollen seines großen Motors, zu meiner Schule kommt, desto aufgeregter werde ich. Wie wird das wohl sein? Giacomo meinte, ich solle mir keine Sorgen machen, dazu gäbe es keinen Grund. „Diesmal wirklich nicht“, hatte er noch hinzugefügt, aber ich weiß nicht ob das stimmt. Selbst wenn es stimmt, aufgeregt bin ich trotzdem.
Trotzdem vergingen die Busfahrt und auch die Pause vor der ersten Stunde wie im Flug. Die Schule wirkt viel freundlicher als früher und die jüngeren Schüler spielen immer noch auf dem Schulhof, die älteren hingegen stehen in Gruppen und reden miteinander. Nur ich passe nicht ins Bild, ein kleiner Junge der mitten in einem großen Haufen von Oberstufenschülern steht. Allerdings sind die echt witzig, aber auch nett. Kaum zu glauben, dass Giacomo so viele Freunde hat, beziehungsweise er bei allen anderen steht, ohne von ihnen gemobbt zu werden. Wann sich das wohl geändert hat?
„Och der Kleine ist ja süß! Wie heißt du denn?“, fragt ein Mädchen das ebenfalls wie Giacomo fast einen ganzen Kopf kleiner als alle anderen ist. Wie zu erwarten war, wuschelt sie mir durch meine sorgsam nicht gekämmten Haare. Haben sich denn alle gegen meine Frisur verschworen?
„Ja da schaust du, Manuela! Es gibt sogar Lebewesen, die noch kleiner sind als du!“, scherzt Tim wieder, der, der auch beim Aufbau meines Hochbettes mitgeholfen hatte. Er hatte mich als einer der ersten begrüßt heute Morgen, in überschwänglicher Fernsehmoderatormanier: „Einen guten Morgen, sehr geehrter Minigiacomo und Willkommen zu unser kleinen Gesprächrunde, live nicht aus dem Gasometer in Berlin!“ Genauso, wie er mich und Giacomo auch bei der Geburtstagsfeier von Marcels kleinem Bruder über Skype begrüßt hatten. Das war witzig, in diesem coolen Schlafwagen … Oha, der kennt mich ja im Schlafanzug, fällt mir auf! Sollte mir das peinlich sein? Vielleicht sollte es das, aber irgendwie ist es das nicht, die großen Oberstufenschüler wirken eher weniger so als würden sie mir etwas antun und mehr so als fänden sie mich niedlich und würden mich beschützen wollen.
Früher als erhofft klingelt leider wie immer die Pausenklingel, die Gruppe löst sich langsam auf und Giacomo klopft mir auf die Schulter: „So, komm mit, ich bring dich dann mal schnell zu deiner neuen Klasse!“ Neugierig folge ich ihm durch eines der kleineren Treppenhäuser und recht schnell gelangen wir zur Türe eines Klassenraumes im Anbaugebäude. 5d, Frau Schaf, ja, die heißt wirklich so. Das ist eigentlich ziemlich witzig, dieselbe Klassenlehrerin hat Giacomo nämlich auch und er meinte, die sei relativ nett, nur die Hausaufgaben sollte ich besser nicht zu oft vergessen. Naja, damit habe ich immerhin Erfahrung.
Recht schön ist der Raum eigentlich, eine Mischung aus Holz- und Backsteinwänden, ein paar selbstgebastelte Sachen hängen an den Fenstern, Pflanzen stehen auf den Fensterbänken, Simpsons- und Fußballerposter hängen an den Wänden sowie Steckbriefe von allen Schülern der Klasse. Im Moment herrscht aber ein heilloses Durcheinander aus umherlaufenden Fünftklässlern, denn meine neue Lehrerin ist noch nicht im Raum.
„Hier, schau mal, da vorne sitz ich!“, stellt Giaco fest und zeigt auf den Platz direkt vor dem Lehrerpult auf der linken Seite: „Würd ich dir auch empfehlen, da lernt man definitiv mehr“, sagt er und schiebt mich durch das Gewusel meiner neuen Mitschüler. Ein relativ großer Junge mit zur Seite gekämmten blonden Haaren und dünnem Blauen Pullover mit „JCK JNS“ und ein kleinerer mit hochgegeelten Haaren werfen ein buntes Scout-Mäppchen umher. Hm, immerhin ist es diesmal nicht mein Mäppchen, trotzdem kann ich mir in Gedanken schon vorstellen, wie bald mein „Dakine“-Mäppchen mit dem neuen durchsichtigen Lamy-Füller umherfliegt.
„Hey Giacomo, was machst du denn hier?“, brüllt der große Junge erstaunt. Erschrocken drehe mich um. Was ich hier mache? Ähhh, was antworte ich am coolsten?
„Ich bring meinen kleinen Bruder in seine neue Klasse. Hier, das ist Felix, der ist jetzt ab heute einer von euch“, antwortet Giacomo. Stimmt, ich bin ja gar nicht mehr Giacomo, in der Anspannung hätte ich das fast vergessen. Einen Namen, den man elf Jahre lang hatte, legt man eben nicht einfach so ab.
„Krass, du hast nen Bruder?“, fragt der große Junge mit offenem Mund.
„Sieht so aus, oder?“, sagt Giaci als ihn das zweite Klingeln unterbricht: „So, ich bin dann mal weg, bis nachher, Lex!“, sagt er noch und gibt mir einen Highfive. Keine Umarmung und auch keinen Haarwuschler, schnell bemerke ich, dass das Absicht ist und Giacomo mir den Highfive gibt um das ganze cooler wirken zu lassen. Wann er wohl so etwas gelernt hat, was jetzt in welcher Situation cool ist und was nicht?
Während Giacomo erstmal verschwindet und meine neue Klassenlehrerin immer noch nicht im Raum ist, entschließe ich mich, mich erstmal auf meinen neuen Platz zu setzen und meine Tasche auszupacken.
„Was geht?“, fragt mich der große blonde Junge, während er auf mich zukommt: „Fang!“, ruft er, und wirft mir das Scout-Mäppchen rüber. Da ich noch nie ein guter Fänger war, fliegt es an meinen Händen vorbei in den Haufen tuschelnder Mädchen links von mir: „Iiiiiih, Leon, mach das Weg!“, ruft eine von ihnen. Leon, offensichtlich der große blonde Junge, verzieht aber nur sein Gesicht und bekommt daraufhin das Mäppchen gegen sein Gesicht geschleudert woraufhin die Mädchenbande lauthals loslacht. Ich verkneife mir das Lachen lieber, denn Leon sieht nicht grade so aus, als wäre er sonderlich nett zu Leuten wie mir. Appropos Leon, der hat das Mäppchen bereits wieder weggeworfen und macht Anstalten, sich auf den Platz neben mir zu setzen. Unwillkürlich stellen sich mir die Nackenhaare auf und ich blicke nervös rüber. Die sauber gekämmten Haare, dieses grinsen, der offensichtlich modische Pullover, die bunten Sneakers, er wirkt wie ein Mobber. Damit habe ich immerhin Erfahrung. Ich könnte zum Erstschlag aushohlen, die Feindschaft selbst beginnen, dann wäre ich wohl der coole. „Warte erstmal ab in deinen ersten Tagen in deiner neuen Klasse“, hatte mir Giacomo gestern Abend noch geraten. Ich sollte besser erstmal ruhiger sein, die neue Situation auf mich wirken lassen und meine Mitschüler kennen lernen bevor ich mich mit irgendjemandem anlege.
„Hi, ich bin Leon“, sagt Leon nun. Was? Das wäre das letzte was ich jetzt erwartet hätte. Kein dummer Spruch obwohl ich doch normalerweise für genau solche Kinder immer direkt das Ziel bin.
„Ja“, antworte ich schüchtern. Ja? Fällt mir nichts besseres ein? „Ich bin Felix. Aber das wei … weißt du ja schon.“
„Du bist echt Giacomos Bruder?“, fragt er mich nun interessiert: „Ich wusste garnicht dass der einen hat! Und wieso kommst du erst jetzt aufs ZAG?“
„Ach das ist ne lange Geschichte. Und ja, ich bin Giacomos Bruder, sieht man das nicht?“, antworte ich schüchtern. Leon schaue ich nicht in die Augen und spiele stattdessen am Reisverschluss meines neuen Mäppchens rum: „Woher kennst du eigentlich Giacomo?“
„Ach, den kennt doch jeder!“, antwortet Leon belustigt und ich weiß nicht, ob er das positiv oder negativ gemeint hat, allerdings sah das eben eher nicht so aus, als würde er sich über Giacomo lustig machen. Am besten sage ich nichts dazu. „Und was sind so deine Hobbies?“, fragt er mich als nächstes und ich komme mir ein bisschen vor wie vor Gericht. Der Angeklagte, also ich, ergreift das Wort: „Ja, also …“, was antworte ich denn jetzt am besten? Mit Lego spielen? Spielzeugautos? Detektiv spielen? Ich glaube, dann wäre es um meine Achtung in der Klasse ziemlich schnell geschehen: „ … Hm, Fußballspielen, Fahrradfahren und Computerspielen“, antworte ich. Ich glaube, das klingt cool.
„Garnicht so Technik und Politikerzeug und so wie Giacomo?“, fragt der mir äußerst suspekte Leon während er das Scout-Mäppchen öffnet, den Füller aufdreht, die Patrone rausnimmt und demonstrativ auf den Boden wirft.
„Du musst die Patrone unter das Tischbein stellen und dann draufdrücken“, sage ich ihm um cool zu wirken, eigentlich finde ich das aber gar nicht gut.
„Haha cool stimmt!“, stell Leon fest und zerdrückt die Patrone
„Ey du scheiß Wichser!“, ertönt plötzlich aus der Tür. Ein kleiner blonder Junge der aussieht wie der kleine Bruder aus der Nick-Serie Zoey101 steht in der Tür und läuft auf Leon zu. Halt, den kenn ich doch! Das ist Fabian aus dem Ikea!
„Heult der kleine Hosenpisser gleich?“, giftet Leon ihn an während Fabi sich auf ihn stürzt: „Und runter von meinem Platz, du Arschloch!“ Bevor es zu so etwas wie einer Prügelei kommt, steht allerdings auch schon die neue Klassenlehrerin in der Tür: „Leon! Fabian! Auseinander!“
„Ich hab nichts gemacht!“, antwortet Leon ruhig und hebt seine Hände: „Der hat mich einfach angegriffen.“
„Stimmt garnicht!“, antwortet Fabian aufgeregt und sieht so aus, als würde er gleich heulen: „Du Spasti hast mein Mäppchen geklaut!“ Die ganze Situation kommt mir sehr bekannt vor und ich bekomme richtig Mitleid mit Fabian und Hass auf Leon. Leon, den ich offenbar seit der ersten Minute richtig eingeschätzt hatte und der mich vermutlich bald genauso angreifen wird wie Fabian.
„Spasti? Fabian, keine Schimpfwörter! Wie oft noch!“
„Aber …“, antwortet Fabian. Er kommt sich grade ungerecht behandelt vor, ich weiß das aus eigener Erfahrung.
„Setz dich erstmal“, sagt sie zu Fabian, schaut ihn an und klopft im auf die Schulter: „Wir klären das in der Pause, wir haben sowieso genug Zeit verloren.“
Fabian hebt sein Mäppchen vom Boden auf und geht in meine Richtung. Unsere Blicke treffen uns und er wirkt sichtlich verwundert und schockiert, sagt aber nichts.
„Huch!“, stellt zudem meine Klassenlehrerin lachend fest: „Das ist ja wie in einer Zeitreise! Ich hab ja heute Morgen noch erfahren dass ich dich jetzt in meiner Klasse habe, aber das! Du siehst Giacomo total ähnlich, weißt du?“
Die scheint ja ganz cool zu sein: „Hihi, Ja, ich weiß“, antworte ich während sich Frau Schaf ans Lehrerpult vor meinem Tisch setzt. „Und dann sitzt ihr auch noch am selben Platz! Na hoffen wir mal, das ich euch nicht verwechsle“, sagt sie während sie ihre Organisationsmappe heraushohlt. „Hang in there, Baby!“ klebt auf der Vorderseite, mit dem Bild einer auf einer Wäscheleine hängenden Katze.
Noch erstaunter stelle ich allerdings fest, dass sich Fabi neben mir hinsetzt. „Was machst du denn hier?“, flüstert er mir zu während Frau Schaf aufsteht und anfängt, die Tafel zu wischen.
„Hi!“, antworte ich freundlich: „Wie du vielleicht gesehen hast bin ich der neue bei euch in der Klasse!“
„Ah, cool“, antwortet er als hätten wir uns im Ikea nie gestritten während er sein Mäppchen aufklappt, sein Heft aufschlägt und mit dem Füller offensichtlich das Datum ins Heft schreiben will. Er stellt fest, dass sein Füller nicht schreibt.
„Leon hat die Patrone rausgenommen und unter deinen Tisch geworfen“, flüstere ich ihm zu und fühle mich schlecht, immerhin bin ich der, der die Idee hatte, die Patrone aufplatzen zu lassen.
„Man! Immer ärgert der mich!“, flüstert Fabian bemerkbar frustriert und ich kann ihn gut verstehen.
„Du hast einen Lamy-Füller, oder? Hier, du kannst eine Patrone von mir haben!“, antworte ich ihm zuzwinkernd und reiche ihm eine meiner neuen Patronen.
„Oh, Danke!“, antwortet er erfreut und nimmt die Patrone entgegen. „Leon ist echt ein Arsch, kann das sein?“, frage ich Fabi.
„Ja! Ich hab dem nie etwas getan!“, flüstert er mir weiter zu.
„Kenn …“, fange ich an zu antworten, werde aber durch Fabians Schulter die mich anstupst, gestoppt. Hä? Er deutet mit seinen Augen in Richtung Tafel. Vorne steht unsere Klassenlehrerin und schaut uns Böse an. Ich wusste ja dass die erste Reihe Nachteile hat, aber Giacomo wollte es mir nicht glauben!
Der Rest der Doppelstunde verläuft mehr oder weniger Normal, die meiste Zeit verbringen wir damit, Aufgaben in Partnerarbeit zu lösen, logischerweise arbeite ich mit Fabi zusammen. Oh man, der ist echt gut in Mathe! Ziemlich schnell kriegt er die Brüche gekürzt und in vielen Fällen kann ich nachher nurnoch „Ja, stimmt“ antworten, jedenfalls macht es ziemlich viel Spaß, mit ihm die Aufgaben zu bearbeiten. Recht schnell sind wir anschließend auch schon fertig während vermutlich sieben achtel der Klasse noch an den Aufgaben sitzen. Brüche sind echt cool, wieso habe ich das nicht schon früher bemerkt?
Eigentlich war ich ja grade schon in der sechsten Klasse, aber wenn ich hier so sitze stelle ich fest, dieses halbe Jahr Wiederholung tut meinen Mathekenntnissen sehr gut, dabei war Mathe eines meiner besseren Fächern auf dem Zeugnis. Kein Wunder, das Giacomo damals die sechste Klasse wiederholt hat, wie er mir gestern noch gestanden hatte. Ich muss sagen, ich war überrascht und ein bisschen enttäuscht. Die zweite Klasse hatte ich ja übersprungen, aber dann einmal zu wiederhohlen? Das machen doch nur die Dummen! Offensichtlich aber nicht.
„Und wieso bist du jetzt einfach so nach den Osterferien in unsere Klasse gekommen?“, fragt mich Fabian, nachdem wir den letzten Aufgabenblock, eine unnötige Textaufgabe, berechnet haben.
„Ach, das ist eine lange Geschichte …“, fange ich an und erzähle ihm die Lügengeschichte aus dem Forschungszentrum. Interessiert hört er bis zum Ende zu, schaut zwischendrin mitleidig und scheint an manchen Stellen echt überrascht zu sein: „Du hast nen großen Bruder? Oha, ist der fieß?“
„Neee, der ist supernett, mit dem versteh ich mich total gut“, antworte ich wahrheitsgemäß während ich meinen linken Finger in der Luft herum schwinge: „Wieso sollte der fieß sein?“
„Keine Ahnung, große Brüder sind normalerweise total oft fieß, glaube ich“, antwortet Fabian: „Ich hab ne kleine Schwester, die ist hauptsächlich nervig“, fügt er resignierend hinzu.
„Haha, das glaube ich“, antworte ich kichernd: „Mein Bruder sagt auch immer, dass ich nerve!“
Schnell schweift unsere Unterhaltung weiter ab, wir reden darüber wo wir wohnen, wie es bei uns auf der Grundschule war bis das Gespräch irgendwann auf unser erstes Treffen im Ikea-Spieleland: „Die großen Bausteine da waren ja wirklich total cool“, stelle ich fest und auch Fabian stimmt mir zu: „Ja total, wie Minecraft im echten Leben“, antwortet er begeistert. Ich weiß zwar nicht, was Minecraft ist, aber trotzdem stimme ich ihm zu.
„Sorry nochmal wegen dem mit der Windel“, sagt er dann auf einmal in einem sehr entschuldigenden Tonfall: „Das war echt fieß wie ich das so gesagt hatte, aber normalerweise bin ich halt immer der, der gehänselt wird wegen meinen nassen Hosen.“
Erschrocken, erstaunt und erfreut bin ich über Fabians Worte. Erschrecken tue ich mich darüber, das Fabian das W-Wort so mehr oder weniger offen flüstert und das sogar in der Schule: „Pssssst! Aber macht nix, danke.“
„Freunde?“, fragt Fabian nach kurzer Stille!
„Freunde!“, stimme ich ihm zu und wir schlagen unsere Fäuste zusammen: „Bujachacka!“, sage ich dazu. Ich muss sagen, Fabian scheint richtig nett zu sein, und intelligent noch dazu.
Leider wird unser interessantes Gespräch schon sehr bald durch den fortschreitenden Unterricht unterbrochen. Die Aufgaben werden verglichen, einer nach dem anderen muss ein Ergebnis für eine Rechnung, eine simple Kürzungsaufgabe oder einer der komischen Textaufgaben liefern, die anderen müssen vergleichen und ab und zu stellt die Lehrerin die Aufgabe sogar an der Tafel vor. Mehr und mehr Häkchen landen neben unseren paar Aufgaben, so dass ich am Ende wirklich erstaunt und begeistert bin, wieviel ich richtig gerechnet habe. Zwischendrin pinkle ich auf einmal fast unbewusst los und entlasse den Kakao vom Frühstück in meine Drynites die sich prompt aufwärmt. Erneut muss ich feststellen, wenn ich keine Pullup anhätte, wäre jetzt wohl meine Hose ziemlich nass.
Leider lässt Frau Schaf es sich nicht nehmen, uns am Ende auch nicht wenige Hausaufgaben aufzugeben und so laufen wir schließlich erlöst durch die Pausenklingel aus dem Klassenraum.
„Hey ihr Opfer, hier kommt ihr nicht durch!“, meint ein etwas dickerer, schwarzhaariger Junge aus meiner neuen Klasse und stellt sich vor mich und Fabi.
„Lass uns durch, Wolfgang!“, ruft mein neuer Freund beleidigt und stellt sich vor Wolfgang. Ein Junge der Wolfgang heißt? Ich dachte, so etwas hätte es seit dem zweiten Weltkrieg nicht mehr gegeben!
„Halts Maul, du Hosenpisser!“, antwortet Wolfgang gehässig.
„Alter, Wolf!“, ruft Leon lautstark von hinten: „Das ist der kleine Bruder von Giacomo!“
„Schüsch!“, stellt Wolfgang der Wolf fest und geht zur Seite. Mir geht ein Licht auf. Ist Leon etwa deshalb so nett zu mir, werde ich deshalb nicht gemobbt? Weil mein großer Bruder cool ist? So einfach ist das? Wie unfair ist das denn? Es kommt gar nicht darauf an, wie man ist, sondern nur darauf, wen man kennt, mit wem man verwandt ist?
„Du weißt schon wer das ist?“, fragt Leon an mich gerichtet.
„Wer? Er? Das ist Fabian, und?“, frage ich in Leons Richtung und mache mit meinem Tonfall klar, dass ich auf Fabis Seite stehe.
„Das ist ein kleiner Hosenpisser! Der hat auf der Klassenfahrt zweimal ins Bett gepinkelt und hat andauernd die Hose nass!“, antwortet Leon wichtigtuerisch, so wichtigtuerisch das ich ihm gerne eine reinhauen möchte. Aber das lasse ich lieber.
„Wenigstens heißt er nicht Wolfgang“, antworte ich als einziges und ziehe Fabian ins Treppenhaus. Die beiden bleiben zurück.
„Was für Arschlöcher!“, sage ich verägert als wir alleine im schon leeren Treppenhaus sind
„Die ärgern mich immer deswegen“, antwortet Fabian betrübt: „Danke, dass du zu mir gehalten hast.“
„Ja aber klaro!“, sage ich aufmunternd: „Wenn mans genau nimmt, bin ich sogar noch ein viel größerer Hosenpisser als du, nur sieht man das ja nicht bei mir“, erwähne ich, um ihn aufzumuntern. In der Tat bildet sich ein kleines Lächeln auf seinem Gesicht, das Wissen, das er nicht alleine ist.
„Du musst echt mordsmäßig aufpassen dass die deine Pampers nicht entdecken, flüstert mit Fabi noch zu, während wir die Treppen runtergehen: „Du hast doch welche an, oder? Im Ikea zum Beispiel konnte man die ja ziemlich leicht sehen. Wenn Leon das mitbekommt, bist du erledigt!“
„Ach, mach dir da mal keine Sorgen“, antworte ich und ziehe mein Tshirt und meine Jacke an meiner Hüfte hoch und gebe den Blick auf meine Boxershorts und mein Unterhemd preis: „Oder erkennst du was?“
„Krass, ne, überhaupt nix, wenn ich das nicht wüsste, würde ich niemals drauf kommen. Und auch deine Hose wirkt nicht mehr dicker, dann musst du dir wohl keine Sorgen machen“, antwortet er und stößt die Tür in Richtung Pausenhof auf: „Und Giacomo ist echt dein großer Bruder?“
„Jo, wusstest du das nicht? Achso, du kamst ja erst nachher in die Klasse rein!“, antworte ich.
„Wie cool! Dann bin ich jetzt mit dem kleinen Bruder von Giacomo befreundet? Geil!“
„Was zur Hölle ist denn so besonders an Giacomo“, frage ich interessiert, immerhin bin ich ja auch irgendwie Giacomo und wo irgendwie jeder meiner Klasse mein zukünftiges Ich kennt wirkt das ja fast so, als hätte ich etwas erreicht. Kurz klärt mich Fabian auf über die Aktivitäten meines Bruders auf der Schule und diesmal bin ich der, der staunt. So vieles von dem was ich mal machen will, habe ich scheinbar wirklich gemacht! Wieso hat er mir davon noch nicht erzählt? Und heißt dass, das ich das alles auch hinkriegen würde?
„Die Stunde hat irgendwie voll Spaß gemacht“, stelle ich schließlich fest als Fabian fertiggeredet hat und kurz Stille herrscht mangels Gesprächsstoff.
„Ja find ich auch, wir waren ein super Team, so schnell wie wir waren!“, stellt Fabi fest: „Ich geh mal schnell auf Toilette, bin gleich wieder da. Bleibst du hier?“
Zu seiner Verwunderung folge ich Fabian zur Toilette auch wenn das, wie er treffend feststellt, für mich komplett nutzlos ist. So stehe ich schließlich wartend im Toilettenvorraum an der Wand angelehnt und pinkle mir in meine Drynites, während Fabian nebenan auf Toilette geht. Wenn der wüsste, wie cool Windeln sind! Ein bisschen Überwindung kostet es mich im Gegensatz zu eben in der Mathestunde aber durchaus und so landet auch nur ziemlich wenig in der Pullup. Als Fabian schließlich endlich fertig ist, gehen wir beide wieder nach draußen und ich nehme in mit zu der Elftklässlergruppe bei der auch Giacomo steht.
„Hi Brudi!“, rufe ich und piekse Giaco in die Seite. Wie erhofft erschrickt er sich und zuckt zusammen: „Lexi! Du Monster! Na, wie wars?“, fragt er mich interessiert und dreht sich um in meine Richtung.
„Super! Mathe hat voll Spaß gemacht und ich habe einen neuen Freund gefunden!“, antworte ich ihm aufgeregt, hüpfe dabei etwas und zeige auf Fabian.
„Krass!“, stellt Giacomo fest und schaut in Fabis Richtung: „Hat dir schon mal jemand gesagt, dass du übelst aussiehst wie Anakin Skywalker in der ersten Star Wars-Episode?“
„Na das nenn ich mal Crossover!“, bemerkt Tim: „Lex Luther und Anakin Skywalker. Na das wars dann wohl mit der Rebellion.“
„Also im Ernst, das feier ich ja“, meint Giacomo und gibt Anakin ein Higfive: „Kennst du Star Wars?“
„Kennen ja, aber geschaut hab ichs noch nicht“, antwortet Fabian doch ehe wir uns weiter unterhalten können ist die Pause auch bereits wieder vorbei. Die Elftklässler machen allerdings keine Anstalten, zu ihren Räumen zu gehen, Anakin und ich laufen jedenfalls direkt zu unserem Klassenraum los.
Autor: giaci9 (eingesandt via E-Mail)
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