Zwischen Gestern und Morgen (18)
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Danke für euer bisheriges Feedback! Heute gibt es mal wieder einen längeren Abschnitt, da ich gestern nichts veröffentlicht habe.
In dieser Nacht erwachte ich mehrfach, ohne dass ich mich genau an meine Träume erinnern konnte. Ich wusste nur, dass sie nicht schön waren und mir ein beklemmendes Gefühl im Bauch machten. Aber Mama war die ganze Zeit da. Jedes Mal sprach sie sanft mit mir, bis ich wieder einschlief.
Am Morgen wachte ich richtig auf, als Mama mir ganz liebevoll die Windel wechselte. Ich lächelte sie an, und sie lächelte sofort zurück. Das Frühstück war schon vorbereitet. Auch wenn ich aufgeregt war, sagte Mama, ich müsse etwas essen. Also habe ich eine Schüssel Cornflakes gegessen – zwar keine mit Schokolade, aber dafür gab es einen warmen Kakao, und der war richtig lecker.
Mama hat heute selbst kaum etwas gegessen, und ich glaube, sie ist auch aufgeregt. Nach dem Frühstück setzte ich mich auf ihren Schoß, kuschelte mich an sie und flüsterte ihr ins Ohr: „Ich hab dich ganz doll lieb.“ Mama umarmte mich fest, Sie gab mir einen Kuss auf den Kopf und sagte: „Ich dich auch, bis zur Sonne und zurück.“
Danach ging es nochmal schnell ins Badezimmer. Mama putzte mir die Zähne, auch wenn ich das eigentlich schon selber kann – aber heute ging alles ein bisschen schneller als sonst. Sie zog mir eine blaue Jeans und einen grauen Pullover mit Traktoren und Baggern an. Ich fand das Outfit richtig cool, und Mama war heute wirklich flink.
Das Frühstück viel mir heute wirklich schwer, aber ich konnte ja schlecht zu Benjamin sagen, dass er etwas essen soll, und selbst kaum etwas zu mir nehmen. Also bemühte ich mich, ein gutes Vorbild zu sein, auch wenn mir der Appetit fehlte.
Es war so Herzerwärmend, wie er versucht hat, mich auf andere Gedanken zu bringen, als er auf meinen Schoß kletterte und mir leise sagte, dass er mich ganz doll lieb hat. Dieses Gefühl lässt sich nicht in Worte fassen.
Für heute habe ich seine Sachen extra so ausgewählt, dass seine Windel möglichst unauffällig bleibt. Die Pampers sind ja ohnehin gut unter der Hose versteckt – zumindest, solange sie trocken bleiben. Im Ernstfall werde ich einfach darauf achten, ihn häufiger frisch zu machen, damit ihm in der Öffentlichkeit keine peinliche Situation entsteht.
Hoffentlich wird es heute nicht so schlimm, wie ich es mir gerade vorstelle. Ich wünschte, Thomas könnte als zusätzliche Unterstützung mitkommen.
Es sollte gleich losgehen. Gustav hatte mir heute Morgen mitgeteilt, dass wir gegen 10 Uhr aufbrechen würden, bevor ich Benjamin weckte. Das Ziel war ein Hotel in Stuttgart, wohl absichtlich an einem sehr öffentlichen Ort – das war offenbar auch der Wunsch von Herrn Petrow.
Frau Grünwald hatte über Gustav ausrichten lassen, dass ausreichend Polizei anwesend sein würde und wir uns keine Sorgen machen sollten. Trotzdem blieb ein Rest Angst in mir, nicht nur wegen der Möglichkeit eines erneuten Angriffs, sondern auch wegen dem, was wir heute erfahren würden.
Ein Klopfen an der Tür riss mich aus meinen Gedanken. „Frau Hofmeister? Es geht los, kommen Sie bitte mit Benjamin nach unten,“ sagte Gustav ruhig.
Ich atmete tief durch, strich Benjamin sanft über die Schulter, damit er aufstand, und nahm seine Hand. Es war Zeit, den nächsten Schritt zu gehen – auch wenn die Anspannung in mir blieb.
Mama nahm mich an die Hand und trug eine unserer Reisetaschen mit nach unten. Diesmal stiegen wir zusammen mit Gustav und einer Frau in Zivil in ein schwarzes Auto – eine E-Klasse mit abgedunkelten Scheiben hinten. Sobald wir saßen, ging das Tor auf, und das Auto beschleunigte so schnell, dass ich in den Sitz gedrückt wurde. Das Gefühl fand ich richtig toll.
Die Frau am Steuer stellte sich als Heike vor. Sie schien nett zu sein, auch wenn sie nicht viel sprach. Doch eines war klar: Sie hatte es ziemlich eilig. Kaum waren wir auf die Autobahn aufgefahren, wechselte sie sofort auf die linke Spur, und von da an ging es fast durchgehend richtig schnell. Ich konnte die Vibrationen im Sitz spüren, das Brummen des Motors und das leichte Schaukeln, wenn wir an anderen Autos vorbei flogen.
Mama hielt die ganze Zeit meine Hand, und ich merkte, wie angespannt sie war, aber für mich war es fast wie ein Abenteuer. Das schnelle Fahren war aufregend, und ich konnte kaum aufhören, zu grinsen.
Als wir vor einem großen Gebäude hielten, öffnete ein Mann, der anscheinend auf uns gewartet hatte, die Autotür. Zuerst stieg Mama aus, und ich rutschte schnell von meinem Kindersitz herunter, krabbelte hinter ihr aus dem Auto. Gustav holte unsere Tasche aus dem Kofferraum, und um uns herum standen noch zwei weitere Männer, die kräftig aussahen und aufmerksam auf uns aufpassten.
Als wir auf den Eingang zugingen, fiel mein Blick auf die großen Buchstaben über der Tür: „Le Méridien“. Ich hatte keine Ahnung, wie man das aussprach, also fragte ich Mama. Sie lächelte und las es mir zweimal vor, dabei erklärte sie, dass es französisch ist. Trotzdem – so richtig aussprechen konnte ich es immer noch nicht, aber es klang irgendwie spannend.
Die Lobby war riesig – überall war glänzender Marmor auf dem Boden, so hell, dass ich fast mein eigenes Spiegelbild darin sehen konnte. Die Wände waren mit glänzendem Holz verkleidet, und große Kronleuchter hingen von der Decke und leuchteten alles in einem warmen, gemütlichen Licht. Es gab hohe, weiche Sessel und Sofas, die aussahen wie aus einem Märchen. An den Wänden standen große Pflanzen in glänzenden Töpfen, und alles roch irgendwie nach Blumen und einem Hauch von Seife.
In der Mitte der Lobby saß Frau Grünwald auf einer bequemen Couch und lächelte uns zu, als sie uns bemerkte. Die Männer und Gustav begleiteten uns dorthin, und wir setzten uns zu ihr.
„Hallo, Frau Hofmeister. Hallo, Benjamin,“ begrüßte sie uns freundlich. „Setzt euch bitte.“ Sie sah mich und Mama aufmerksam an. „Es ist abgesprochen, dass wir hier gleich weitere Instruktionen bekommen, wenn Herr Petrow sich davon überzeugt hat, dass du wirklich hier bist.“
Ich schaute mich noch immer fasziniert um. Die Lobby fühlte sich ein bisschen wie ein Schloss an, und alles sah so groß und beeindruckend aus.
Kaum hatten wir uns gesetzt, kam ein gepflegter, älterer Herr in makelloser Hotel uniform auf uns zu und neigte leicht den Kopf in Richtung von Frau Grünwald.
„Guten Tag, gnädige Frau,“ begann er mit sanfter, wohlklingender Stimme. „Ich wurde beauftragt, Sie und Ihre Begleitung in die vorbereiteten Räumlichkeiten zu geleiten. Man erwartet Sie bereits.“
Frau Grünwald nickte höflich. „Vielen Dank, sehr aufmerksam von Ihnen. Wir sind bereit.“
Der Herr lächelte leicht und deutete mit einer eleganten Handbewegung zum Aufzug. „Wenn Sie mir bitte die Ehre erweisen würden, mir zu folgen.“
Wir alle erhoben uns und folgten ihm, die beiden Männer immer dicht an unserer Seite. Der Aufzug war geräumig und so ruhig, dass ich kaum merkte, dass er sich bewegte, als die Türen sanft schlossen und wir nach oben fuhren.
Der Aufzug brachte uns in die vierte Etage, und der Hotelangestellte führte uns zu einer Tür. Dort klopfte er höflich an und öffnete die Tür, als sie von innen entriegelt wurde. Ein älterer Herr mit grauen Haaren und einem dazu passenden, eleganten grauen Anzug begrüßte uns und deutete uns mit einer höflichen Handbewegung, einzutreten
Als wir durch die Tür traten sah ich mit großen Augen in die Suite. Alles wirkte so elegant und fein, fast wie in einem Märchenschloss. Die Möbel glänzten, und überall standen hohe Lampen, die ein warmes, goldenes Licht verbreiteten. Der Teppich war so dick und weich, dass meine Füße fast darin versanken, und ich konnte an den Wänden Bilder erkennen, die aussahen wie aus einem Museum.
In der Mitte des Raumes stand eine riesige Couch, und vor einem großen Fenster mit schweren Vorhängen saß ein Mann in einem Sessel. Ich hielt kurz inne – es war Alexej. Sein Gesicht kam mir sofort bekannt vor, und ich wusste, dass er derjenige war, von dem ich im Traum geträumt hatte.
Er lächelte mich an, und obwohl ich spürte, dass sein Lächeln ehrlich war und dass er es gut meinte, löste es in mir nichts weiter aus. Keine besonderen Erinnerungen, keine Gefühle. Trotzdem schien es mir, als könnte ich ihm vertrauen – zumindest jetzt, in diesem Moment.
Alexej stand auf, während der andere Mann im Anzug sich als Herr Dr. Ulrich vorstellte. „Ich bin der Rechtsbeistand von Herrn Petrow,“ sagte er höflich und nickte uns zu. Daraufhin stellte uns Frau Grünwald offiziell vor.
Alexej lächelte und ging ein paar Schritte näher, bevor er sich hin hockte, um auf Augenhöhe mit mir zu sein. Er blieb jedoch in seiner Ecke des Raumes und fragte mich vorsichtig: „Darf ich dich umarmen, Benjamin?“
Die Frage überforderte mich völlig. Ich kannte ihn nur aus meinem Traum, und obwohl ich das Gefühl hatte, dass er nichts Böses wollte, mochte ich die Idee gar nicht. Ein seltsames Unbehagen stieg in mir auf, und ich griff sofort nach Mama, um ihr zu signalisieren, dass ich auf ihren Arm möchte.
Ohne zu zögern nahm sie mich schützend auf den Arm, und ich kuschelte mich an sie. Hier fühlte ich mich sicher, in ihrem Schutz, und konnte Alexej einfach nur anschauen, ohne mehr Nähe zulassen zu müssen.
Als wir die Suite betreten, kann ich nicht anders, als mich umzusehen. Alles hier strahlt eine elegante, unaufdringliche Exklusivität aus – die hohen Decken, die großen, schweren Vorhänge, die das Licht nur leicht gedämpft hindurch lassen. Die Wände sind mit feinen, kunstvollen Mustern verziert, und der Teppich fühlt sich dick und weich unter den Füßen an. Hier ist nichts zufällig, nichts billig – jedes Möbelstück, jeder Lampenschirm scheint perfekt ausgewählt zu sein. Ich frage mich kurz, ob der Mann vermögend ist, denn diese Art von Luxus kommt sicher nicht günstig.
Dann fällt mein Blick auf einen Mann, der in einem Sessel sitzt und uns sofort bemerkt. Er steht auf, und ich erkenne ihn als Alexej – die Beschreibung von Benjamin passt, aber er wirkt ganz anders, als ich ihn mir vorgestellt hatte. Er hat ein ruhiges, sanftes Auftreten, aber auch etwas Nachdenkliches, fast Trauriges in seinem Blick.
Nach der Vorstellung rutscht mir das Herz in die Hose, als er sich auf Augenhöhe zu Benjamin begibt und ihn fragt, ob er ihn umarmen dürfe. Ein persönlicher Bezug also – Alexej hatte eine Verbindung zu Benjamin, die ich nicht wirklich kannte. Ein Gedanke schleicht sich ein: Was, wenn er ihn mitnehmen möchte?
Doch Benjamins Reaktion gibt mir Halt. Er greift sofort nach mir, ein klares Zeichen, dass er Schutz sucht und diese Nähe nicht möchte. Ich halte ihn fest und spüre, wie seine Vertrautheit mir die nötige Ruhe gibt, um Alexej weiterhin mit einem ruhigen Gesichtsausdruck zu begegnen.
Alexej blickte Benjamin an und sagte leise: „Ich habe es schon vermutet, dass du dich nicht wirklich an mich erinnern kannst.“ Er hielt kurz inne und wirkte nachdenklich. „Das ist wohl ein Zeichen dafür, dass der Fortschritt wesentlich weiter ist, als angenommen.“
Doch bevor er weitersprechen konnte, hob Herr Ulrich die Hand und bremste ihn. „Herr Petrow, lassen Sie uns bitte zuerst Ihren Status klären, bevor Sie weitere Aussagen machen,“ sagte er bestimmt. Er deutete auf die Couch und schlug eine Mappe mit Dokumenten auf, die er Frau Grünwald reichte.
„Wir möchten festhalten,“ erklärte Herr Ulrich ruhig, „dass Herr Petrow sich hier freiwillig stellt und ihm bewusst ist, dass er nicht straffrei aus der Angelegenheit herauskommt.“
„Wir streben jedoch im Falle einer erfolgreichen Anklage gegen seinen ehemaligen Arbeitgeber eine Strafminderung an,“ fügte Herr Ulrich hinzu, während er Frau Grünwald die Dokumente übergab. „Dafür versichern wir Ihnen eine vollumfängliche Kooperation von Herrn Petrow.“
Frau Grünwald nickte nachdenklich und schien die Unterlagen sorgfältig zu prüfen. Ich hielt Benjamins Hand fest und versuchte ruhig zu bleiben, während sich das Gespräch entwickelte.
Frau Grünwald sah von den Unterlagen auf und musterte Alexej. „Herr Petrow, Sie sind in St. Petersburg geboren, aber Sie sprechen akzentfrei Deutsch?“
Alexej nickte ruhig. „Ja, das stimmt. Ich bin in Deutschland aufgewachsen und habe hier auch mein Studium abgeschlossen.“
Seine Antwort schien Frau Grünwald zufrieden zu stellen, und sie nickte leicht, als würde sie innerlich Notizen machen.
Dann wandte Frau Grünwald sich wieder an Herrn Ulrich. „Ich muss Ihnen sicher nicht erklären, dass ich keine Zusicherung zur Strafminderung geben kann. Aber ich würde mich dafür einsetzen, dass es bei einer möglichen Verhandlung berücksichtigt wird.“
Herr Ulrich nickte verstehend. „Ja, das ist uns bewusst, und das muss fürs Erste reichen. Herr Petrow ist bereit, ungeachtet seiner persönlichen Konsequenzen bei der Aufklärung zu helfen.“
Frau Grünwald hielt kurz inne und nickte dann zustimmend. Die Entschlossenheit in Alexejs Blick zeigte, dass er es ernst meinte.
Alexej richtete sich auf und begann mit einem ruhigen Blick zu sprechen, wobei seine Augen kurz zu Benjamin und mir wanderten.
„Mein Name ist Alexej Petrow,“ stellte er sich vor. „Ich bin Endokrinologe und wurde später in das Projekt eingebunden, weshalb ich nicht alle Fragen beantworten kann. Aber ich denke, dass ich Ihnen die wichtigsten Antworten geben kann.“
Ich hielt Benjamin fest in meinen Armen und spürte, wie nervös er war. Plötzlich merkte ich, dass es warm auf meinem Schoß wurde – er hatte sich wohl gerade in die Windel gemacht, ohne es zu bemerken. Bei all der Anspannung war das kein Wunder, und auch ich war genauso nervös.
Frau Grünwald nickte aufmerksam und ermunterte Alexej, weiter zu sprechen.
Alexej wandte sich wieder an Benjamin, seine Stimme ruhig, aber mit einem Anflug von Unsicherheit. „Ich weiß ehrlich gesagt gar nicht so richtig, wo ich anfangen soll,“ begann er. „Obwohl ich dieses Gespräch in Gedanken schon oft durchgespielt habe.“
Er seufzte und fuhr fort. „Am besten beginne ich damit, worum es in diesem Projekt überhaupt ging und was meine Aufgabe war.“
„Es gibt einen Tech-Milliardär, der davon träumt, unsterblich zu werden,“ erklärte Alexej. „Dieser Mann hat seine eigenen Vorstellungen und folgt unabhängig von allen ethischen Grundsätzen einer sehr eigenen Agenda. Da es ihm bisher nicht gelungen ist, sich selbst zu verjüngen, kam er auf die Idee, eine genetische Kopie – einen Klon – von sich selbst zu schaffen und seine Erinnerungen auf diesen jüngeren Körper zu übertragen.“
Er sah Benjamin direkt an und fuhr leise fort: „Du warst, oder besser gesagt, du bist, Teil einer dieser Versuchsreihen. Meines Wissens nach bist du das erfolgreichste Ergebnis. Warum gerade du für dieses Experiment ausgewählt wurdest oder wie der Prozess genau funktioniert, kann ich nicht sagen. Aber ich weiß, dass du die exakte genetische Kopie einer anderen Person bist und dass man dir dessen Erinnerungen übertragen hat.“
„Ein entscheidender Faktor war allerdings die Zeit,“ fügte Alexej hinzu. „Der Investor hatte klare Vorstellungen und bestimmte Meilensteine, die erreicht werden mussten. Die Übertragung der Erinnerungen kann jedoch nur in einem Gehirn mit einer gewissen Mindestgröße stattfinden. Da das Klonen eines Menschen nicht unbedingt einfach ist und die Zeit drängte, kam man schließlich auf mein Fachgebiet zurück. Mein Spezialgebiet ist das beschleunigte Wachstum, und man köderte mich mit einer einzigartigen Forschungsfreiheit und einem Team von Spezialisten, wie ich es sonst nirgends finden könnte. Geld war für mich jedoch nie die Motivation.“
Frau Grünwald hob die Hand und unterbrach ihn. „Wenn Sie das Wachstum von Benjamin beeinflusst haben,“ fragte sie kühl, „wie alt ist Benjamin tatsächlich?“
Alexej sah kurz in die Runde und erklärte ruhig: „Benjamin wurde am 09.11.2019 geboren. Er wird also in ein paar Tagen 5 Jahre alt. Sein Körper entspricht jedoch im Wesentlichen dem eines Siebenjährigen.“
Diese Worte trafen mich wie ein Schlag. Eine einzelne Träne lief mir die Wange hinunter, und ich musste mich zusammenreißen, um nicht völlig in Tränen auszubrechen. Der Gedanke, dass Benjamin so viel jünger ist, als ich dachte, fühlte sich unendlich schwer an.
Auch Frau Grünwald schluckte schwer, und ihre Stimme klang hart und ernst, als sie fragte: „Wie können Sie das ethisch vor sich verantworten, Herr Petrow?“
Alexej sah sie einen Moment an, dann fiel sein Blick auf Benjamin, der wie erstarrt in meinen Armen saß. „Gar nicht,“ gestand er leise, „ich weiß, dass ich das nie wieder gutmachen kann. Ich habe mich von den Möglichkeiten blenden lassen.“
Er fuhr fort, und seine Stimme klang bedrückt. „Du wurdest größtenteils von einer Pflegemutter aufgezogen, die in der Nähe unseres Labors in Prag lebte und speziell dafür engagiert wurde. Meiner Meinung nach bestand zwischen euch keine wirkliche emotionale Bindung. Da du aber viel Zeit bei uns im Labor verbracht hast…“ Er hielt kurz inne, und seine Augen wurden feucht. „Du erinnerst mich an meinen kleinen Bruder, der in jungen Jahren verstorben ist. Vielleicht deshalb habe ich eine Bindung zu dir aufgebaut. Aber auch aus Angst, was am Ende aus dir werden könnte, konnte ich nicht mehr aus dem Projekt aussteigen.“
Seine Stimme zitterte leicht, als er weiter sprach. „Als kürzlich festgelegt wurde, dass die Übertragung stattfinden soll, konnte ich es nicht verhindern. Doch nach der Übertragung zeigten sich keine Fortschritte. Du warst apathisch, hast viel geweint – wahrscheinlich vor Schmerzen. Da entschied man, das Projekt mit einem neuen Probanden zu starten und deine Versuchsreihe zu beenden. Sie wollten dich… entsorgen.“
Er hielt kurz inne, dann fuhr er mit fester Stimme fort: „Ich konnte das nicht zulassen. Also sorgte ich für einen Feueralarm und schaffte es, mit dir bis zum Bahnhof zu flüchten. Aber da uns die Verfolger dicht auf den Fersen waren, entschloss ich mich, dich in den nächsten Zug nach Deutschland zu setzen und die Verfolger auf eine falsche Fährte zu locken.“
„Dass du mich jetzt nicht mehr wieder erkennst, sagt mir, dass es einfach Zeit gebraucht hat, bis alles in deinem Gehirn vollständig verknüpft war,“ fuhr Alexej fort, seine Stimme leise, aber bestimmt. „Es hat vermutlich tatsächlich funktioniert.“
Er sah Benjamin ernst an. „Damit sind wahrscheinlich alle Erinnerungen an dein bisheriges Leben verloren.“
Dann atmete er tief durch und sprach mit schwerem Bedauern weiter. „Benjamin, ich kann nur in aller Form um Entschuldigung bitten. Ich verspreche, alles zu tun, um dieses Unternehmen und seinen Initiator zu Fall zu bringen. Aber ihr müsst bis dahin auf der Hut sein,“ warnte er eindringlich. „Man wird alles daran setzen, dich zu vernichten, solange das Unternehmen selbst noch besteht.“
Frau Grünwald sah Petrow scharf an und fragte: „Heißt das also, seine Erinnerungen wurden vollständig überschrieben?“
Petrow nickte langsam. „Ja, so kann man es sich vorstellen. Aber das war nicht mein Fachgebiet. Für meinen Teil habe ich immer daran gezweifelt, dass es funktionieren kann.“
„Und kann man das irgendwie rückgängig machen?“ fragte Frau Grünwald, ihre Stimme hatte einen Hauch von Hoffnung, die sie kaum zu verbergen vermochte.
Petrow schüttelte entschlossen den Kopf. „Nein, das denke ich nicht. Das menschliche Gehirn ist unglaublich komplex. Die Erinnerungs übertragung hat bereits irreversible Veränderungen im neuronalen Netzwerk verursacht. Es wäre riskant und äußerst gefährlich, zu versuchen, das zu ändern.“
Frau Grünwald sah ihn aufmerksam an, bevor sie ihre nächste Frage stellte. „Wie heißt das Unternehmen, für das Sie gearbeitet haben?“
Petrow seufzte tief, bevor er antwortete. „Das Unternehmen heißt Neurodyne Solutions. Es ist ein relativ kleiner, aber extrem gut finanzierter Privatkonzern, der sich auf Neurowissenschaften und genetische Forschung spezialisiert hat. Sie agieren diskret und haben Verbindungen zu einigen der besten Forschungseinrichtungen in Europa.“
Alexej sah Benjamin vorsichtig an und begann zögernd: „Benjamin, ich weiß, dass ich kein Recht habe, dir eine Frage zu stellen, aber… wenn es für dich in Ordnung wäre, würde ich gerne wissen, an was du dich erinnern kannst.“
Benjamin ließ seinen Blick auf seinen Händen ruhen, die nervös in seinem Schoß spielten. Nach kurzem Zögern nickte er. „Es sind keine klaren Erinnerungen,“ sagte er leise. „Es sind mehr… Bruchstücke. Bilder oder Gefühle, die manchmal auftauchen, aber sie wirken so weit weg.“
Alexej nickte aufmerksam, ohne eine Gefühlsregung zu zeigen, und fragte weiter: „Gibt es da Momente, die dir besonders im Gedächtnis geblieben sind?“
Benjamin schloss kurz die Augen, als er nach den verschwommenen Bildern suchte. „Ja… da ist ein Bild, oder vielleicht ein Traum,“ flüsterte er schließlich. „Ich sehe mich rennen, weg von einem Gebäude. Es war dunkel, und jemand war bei mir. Ich glaube, er hat meine Hand gehalten, und wir sind durch einen langen Gang gerannt.“
Alexej blieb still und beobachtete Benjamin aufmerksam. „Weißt du, wer der Mann war?“ fragte er leise, ohne Drängen in der Stimme.
Benjamin öffnete die Augen und sah Alexej direkt an. „Ich glaube… es warst du,“ sagte er, seine Stimme kaum mehr als ein Flüstern.
Alexej nickte langsam. „Ja, das war ich,“ bestätigte er sanft. „Aber… was ich eigentlich meinte, Benjamin, ist: An was erinnerst du dich aus dem früheren Leben von Benjamin Stenzel? Aus den Dingen, die er vor deiner Zeit erlebt hat.“
Benjamin schaute ihn einen Moment lang nachdenklich an, als ob er tief in seinen Gedanken suchte. „Es ist schwer zu beschreiben,“ begann er vorsichtig. „Ich habe Erinnerungen an Menschen und Orte, die ich selbst nie gesehen habe. Da sind Gespräche und Momente, die ich nie wirklich erlebt habe, aber sie sind da… als wüsste ich genau, wie sich diese Dinge abgespielt haben.“
Alexej nickte wieder und ließ ihm Raum zum Sprechen. „Gibt es bestimmte Erinnerungen, die für dich besonders stark sind?“ fragte er leise.
Benjamin dachte kurz nach und nickte dann langsam. „Ja… ich erinnere mich an einen Geburtstag, als… als ich 12 Jahre alt war.“ Seine Stimme klang unsicher, als er weiter sprach. „Da gab es eine große Feier, viele Leute, aber… ich fühle dabei nichts. Es ist, als würde ich nur durch das Fenster in das Leben eines anderen schauen.“
Alexej hielt den Blick auf Benjamin gerichtet, aufmerksam und ruhig, während er jedes Wort verarbeitete. „Ich verstehe,“ sagte er schließlich. „Du hast die Bilder, die Erinnerungen, aber die Gefühle, die dazu gehören, bleiben aus, richtig?“
Benjamin nickte. „Genau. Es ist, als ob ich alles nur weiß… ohne es je wirklich gespürt zu haben.“
Alexej sprach leise, fast mehr zu sich selbst als zu Benjamin: „Das menschliche Gedächtnis ist wahnsinnig kompliziert. Ich bin ehrlich erstaunt, dass du überhaupt Erinnerungen an das andere Leben hast. Es scheint, als seien diese Erinnerungen nicht mit dem gefühlten Erleben verknüpft worden. Das würde erklären, warum du so unsicher gelaufen bist, als wir aus dem Labor geflohen sind – ich musste dich teilweise tragen. Aber es wurde schnell besser.“
Er hielt einen Moment inne und schaute Benjamin aufmerksam an, als wolle er sicherstellen, dass dieser ihm folgen konnte. „Es sieht so aus, als ob du die Abläufe erst wieder neu mit deinem eigenen Erleben verknüpfen musst. Alles, was du vor der Übertragung an Fähigkeiten erlernt hast, sollte dir eigentlich relativ leicht fallen, wenn es darum geht, sie wiederzuerlangen.“
Benjamin runzelte leicht die Stirn, als er versuchte, Alexejs Worte zu verarbeiten. „Also… du meinst, ich kann lernen, all diese Dinge wieder zu machen? Auch wenn sie sich fremd anfühlen?“
Alexej nickte und lächelte aufmunternd. „Genau. Die Erinnerungen sind da, nur nicht auf dieselbe Weise in dir verankert. Aber mit der Zeit und durch eigenes Erleben wirst du deinen eigenen Weg finden, diese Fähigkeiten zu nutzen. Es ist wie ein Puzzle, bei dem du die Teile neu zusammensetzen musst.“
Ich spürte, wie meine Stimme leicht bebte, während ich versuchte, all das zu verarbeiten. Die Antworten von Alexej waren überwältigend, und doch fühlte ich, dass ich noch mehr wissen musste, um Benjamin besser verstehen zu können.
„Wir haben ihn etwas schreiben lassen…“ begann ich zögernd und sah Alexej direkt an. „Das konnte er nicht wirklich. Aber Lesen fällt ihm leichter. Warum ist das so?“
Alexej nickte langsam, als ob er genau überlegte, wie er mir das erklären könnte. „Das macht tatsächlich Sinn,“ sagte er schließlich, seine Stimme sanft und ruhig. „Lesen ist ein passiver Prozess. Benjamin nimmt dabei einfach Informationen auf und verknüpft sie mit den Erinnerungen in seinem Gehirn. Diese Verknüpfungen sind vorhanden, auch wenn sie sich für ihn nicht ganz real anfühlen.“
Ich nickte langsam, versuchte, seinen Worten zu folgen, auch wenn es mich mit Traurigkeit erfüllte, all das zu hören. „Aber… Schreiben?“ fragte ich leise.
„Schreiben ist anders,“ erklärte Alexej weiter. „Es ist ein aktiver Prozess. Erfordert motorische Abläufe, Koordination und Feinmotorik – Fähigkeiten, die nicht richtig mit den Erinnerungen verknüpft wurden. Deswegen fällt es ihm schwer, das theoretische Wissen in tatsächliche Bewegungen umzusetzen.“
Ich spürte einen Stich im Herzen. Mein kleiner Junge hatte all diese Erinnerungen und doch… war es, als hätte er keinen Zugang zu ihnen auf die Weise, wie es sein sollte. „Das heißt, er weiß theoretisch, wie man schreibt, aber sein Körper kann es nicht umsetzen?“
„Ja, genau,“ antwortete Alexej behutsam. „Er kennt die Regeln, die Formen der Buchstaben – das Wissen ist da. Aber die Fähigkeit, es in Bewegung zu übertragen, muss er erst neu lernen.“
Ich schluckte, ließ seine Worte auf mich wirken und spürte, wie sich ein tiefes Bedürfnis in mir breit machte, Benjamin durch diesen Prozess zu helfen. Ihm die Geduld, das Verständnis und die Unterstützung zu geben, die er brauchen würde, um diese Fähigkeiten wiederzuentdecken.
„Aber… er kann doch sprechen,“ wandte ich ein, meine Gedanken suchten verzweifelt nach einem Sinn in all dem. „Und sein Deutsch ist perfekt. Ist das nicht auch etwas Motorisches?“
Alexej nickte und lächelte leicht, als ob er genau diese Frage erwartet hätte. „Ja, das stimmt ein Stück weit,“ antwortete er ruhig. „Sprechen ist ebenfalls eine motorische Fähigkeit, aber Benjamin konnte schon vor der Übertragung sprechen. Wir waren verpflichtet, ausschließlich fließend Deutsch mit ihm zu sprechen, damit diese Sprachfähigkeiten tief verankert bleiben.“
Ich nickte langsam, als seine Worte sich in meinem Kopf zu einem klareren Bild formten. „Das heißt, er konnte die Sprache durch die vorhandenen Erinnerungen wieder abrufen?“
„Genau,“ bestätigte Alexej. „Er hat Zugriff auf die sprachlichen Erinnerungen und kann sie direkt anwenden. Schreiben hingegen haben wir nie mit ihm geübt. Es ist eine fein motorische Fähigkeit, die er erst entwickeln müsste. Deswegen fällt ihm das deutlich schwerer.“
Ich spürte Erleichterung und Traurigkeit zugleich. Es tat mir weh, dass Benjamin sich so vieles mühsam erarbeiten musste, aber gleichzeitig verstand ich endlich besser, warum er bei manchen Dingen so unbeholfen wirkte.
„Hatte er… Probleme mit seinen Ausscheidungen?“ fragte ich vorsichtig und spürte, wie mein Herz schwerer wurde, als ich die Frage aussprach.
Alexej nickte betroffen und sah Benjamin entschuldigend an. „Ja, das war ein bekanntes Defizit,“ sagte er sanft. „Die beschleunigte Reifung seines Körpers hat leider Nebenwirkungen. Es tut mir leid, Benjamin.“ Er hielt kurz inne, als würde er überlegen, wie er es am besten erklären konnte. „Deine Blase ist für deine Körpergröße viel zu klein. Das Training zur Sauberkeit hatte damals keine Priorität, weshalb auch der Stuhlgang etwas ist, das er noch lernen muss, zu kontrollieren.“
Ich spürte einen Stich im Herzen, als ich das hörte, und hielt Benjamin etwas fester in meinen Armen. „Und was die Blase angeht,“ fuhr Alexej fort, „sie ist in den letzten Jahren unterproportional gewachsen. Es könnte sein, dass sie mit der Zeit noch etwas an Volumen zunimmt, aber sie wird vermutlich nie die Normgröße erreichen. Vielleicht wird es mit ausreichend Training irgendwann möglich sein, ohne Inkontinenz-Hilfsmittel auszukommen, aber das wird eine große Herausforderung für ihn.“
Ich atmete tief durch und sah zu Benjamin hinunter, der sich still an mich lehnte. Für den Moment beschloss ich, dass das alles für ihn jetzt nicht so wichtig war. „Windeln sind im Moment die bessere Lösung,“ murmelte ich leise, mehr zu mir selbst als zu Alexej.
Während ich ihn festhielt, überkam mich wieder das Wissen, das ich immer noch kaum begreifen konnte: Der kleine Junge in meinen Armen, der all diese Dinge durchstehen musste, war noch nicht einmal fünf Jahre alt. Es brach mir das Herz, aber gleichzeitig versprach ich mir, dass ich ihm so viel Unterstützung und Liebe geben würde, wie er brauchte, um diese Herausforderungen zu bewältigen.
Frau Grünwald unterbrach unsere Unterhaltung sanft, aber bestimmt. „Danke für Ihre ausführliche Schilderung, Herr Petrow,“ sagte sie, ihre Stimme war ruhig und kontrolliert, aber in ihren Augen war ein Funken von Entschlossenheit zu sehen. „Haben Sie eine konkrete Idee, wie wir gegen Neurodyne Solutions vorgehen können?“
Alexej hob den Blick, diesmal mit einem Ausdruck von Entschlossenheit und Selbstbewusstsein, den ich bei ihm bisher nicht gesehen hatte. „Ja,“ antwortete er ohne Zögern. „Ich werde Ihnen alle Informationen geben, die ich habe. Standorte der Niederlassungen, Namen von Schlüsselpersonen, ihre Kontakte in die Wirtschaft – alles, was ich weiß.“ Er machte eine kurze Pause und fügte hinzu: „Und ich werde ein vollumfängliches Geständnis ablegen.“
Frau Grünwald nickte langsam und bedachte ihn mit einem dankbaren und respektvollen Blick. „Das wird sehr hilfreich sein,“ sagte sie ernst. „Das könnte uns die Mittel geben, um endlich gegen diese Organisation vorzugehen.“
Das Gespräch war schwer zu verstehen. Ich wusste nicht genau, was all das für mich bedeutete, aber da waren Dinge, die sich in meinem Kopf festsetzten, wie ein Geburtsdatum: 09.11.2019. Ich bin also erst vier Jahre alt. Und doch irgendwie… auch nicht. Der Mann – Alexej – war mir vertraut und gleichzeitig völlig fremd. Er sah mich auf eine Art an, als ob er etwas in mir suchte, etwas Vertrautes, das nur er sehen konnte.
Dann unterbrach Mama das Gespräch zwischen Frau Grünwald und Alexej. „Ich habe noch einige Fragen,“ sagte sie. Beide schauten uns an, wartend und aufmerksam.
Mama stellte die nächste Frage, und ich spürte, dass es um mich ging. „Wie wird sein Wachstum weiter verlaufen? Wächst er weiterhin schneller als normal?“
Alexej schüttelte den Kopf. „Nein, das wird nicht mehr passieren. Er bekommt ja keine Wachstumshormone mehr,“ erklärte er, und seine Stimme klang ernst. „Es könnte sogar sein, dass er jetzt langsamer wächst, als es normal wäre, weil wir in seine natürliche Reifung in einem Übermaß eingegriffen haben. Vielleicht reguliert sich das mit der Zeit, aber darauf können wir uns nicht verlassen.“
Ich verstand nicht alles, was das bedeutete, aber ich konnte spüren, wie Mama die Worte von Alexej ernst nahm. Ein Teil von mir wollte wissen, was das alles für mich bedeutete. Ein anderer Teil von mir wollte einfach nur, dass alles normal ist, auch wenn ich nicht wusste, was „normal“ überhaupt wirklich bedeutet.
Alexej fuhr fort, seine Stimme fest und ernst. „Es ist wirklich wichtig, dass er keine weiteren Wachstumshormone künstlich zugeführt bekommt. Zudem sollte er sich regelmäßigen Screenings unterziehen, um sicherzustellen, dass sich keine Tumore bilden. Das war eines der größten Risiken und Herausforderungen bei diesem Eingriff.“
Mama schluckte schwer, und ich konnte sehen, dass ihre Augen für einen Moment glasig wurden. Ein seltsames Gefühl machte sich in mir breit, und ich verstand nicht ganz, warum sich mein Magen so zusammenzog. Sprach er gerade von… Krebs?
Ich hatte schon mal von der Krankheit gehört, irgendwo in diesen Erinnerungen, die nicht wirklich meine waren, aber sich trotzdem wie Wissen anfühlten. Das Wort allein schien eine düstere Schwere im Raum zu verbreiten. Ich spürte, wie Mamas Arm sich ein wenig fester um mich legte, als ob sie mich beschützen wollte – vor was auch immer es war, was Alexej gerade andeutete.
„Ist sein Risiko erhöht?“ fragte Mama leise, ihre Stimme war kaum mehr als ein Flüstern, als ob sie die Antwort fürchtete.
Alexej hielt kurz inne, als ob er die richtigen Worte suchte. „Im Grunde nein,“ sagte er schließlich vorsichtig. „Es ist hauptsächlich eine Vorsichtsmaßnahme. Der Eingriff in den Hormonhaushalt, besonders in dieser Wachstumsphase, ist ein Risikofaktor. Wir haben ihn während der gesamten Zeit regelmäßig überwacht und konnten bei ihm keine Anzeichen für solche Probleme finden. Aber… es ist aus anderen Versuchsreihen bekannt, dass es vorkommen kann.“
Mama nickte langsam, doch ihre Hand lag immer noch fest auf meiner Schulter. Ich konnte ihre Anspannung spüren, auch wenn sie versuchte, es zu verbergen. Die Vorstellung, dass etwas in mir falsch sein könnte, fühlte sich wie eine dunkle Wolke an, die über uns hing.
„Andere Versuchsreihen?“ fragte Mama besorgt, und ich bemerkte, dass auch Frau Grünwald ihn mit ernster Miene ansah, die Augen schmal zusammengezogen.
Alexej nickte langsam. „Ja, die gab und gibt es,“ antwortete er mit bedächtiger Stimme. „Aber ich habe ausschließlich an Benjamins Projekt gearbeitet. Zu den anderen Versuchsreihen hatte ich nie direkten Kontakt. Soweit ich weiß, wurde in jeder Reihe mit unterschiedlichen Personen gearbeitet, und das Ziel war es, verschiedene Ansätze zu testen. Es sollte also keinen zweiten Benjamin geben.“
Ich spürte, wie Mamas Hand noch etwas fester wurde, und eine merkwürdige Stille legte sich über den Raum. Ich konnte spüren, dass sie das nicht beruhigte – mich auch nicht. Das Wort „andere“ klang so, als wären da noch mehr Kinder, wie ich.
Frau Grünwald unterbrach erneut das Gespräch, ihre Stimme fest und entschlossen. „Ich denke, die Zeit drängt, Herr Petrow,“ sagte sie, während sie ihm direkt in die Augen sah. „Sie kommen jetzt erstmal offiziell in Gewahrsam.“ Dabei richtete sie ihren Blick auch auf Herrn Ulrich, der die ganze Zeit still in der Ecke des Raumes stand und das Gespräch beobachtet hatte. Er nickte nur knapp.
„Wir müssen so schnell wie möglich alle verfügbaren Informationen zusammenführen,“ fuhr Frau Grünwald fort, „um dann das weitere Vorgehen gegen diese Organisation zu planen.“ Ihr Blick war entschlossen, als sie zu Alexej zurückkehrte.
Mama wandte sich an Frau Grünwald und fragte mit angespannter Stimme: „Was heißt das jetzt für uns?“
Frau Grünwald sah sie ernst an. „Ihr werdet auf jeden Fall weiterhin unter Personenschutz stehen, bis wir Entwarnung geben können. Sobald wir das Labor – oder die Labore – geschlossen und mögliche Versuchspersonen in Sicherheit gebracht haben, solltet ihr außer Gefahr sein. Die beteiligten Personen werden dann vermutlich größere Probleme haben, als euch weiter zu verfolgen.“ Sie hielt kurz inne und fuhr dann fort. „Ich werde über verschiedene Kanäle versuchen, eine offizielle neue Identität für Benjamin zu organisieren.“
Mama wurde bei diesen Worten plötzlich sehr aufmerksam. „Vielleicht auch für Sie, Frau Hofmeister. Das wäre allerdings kein leichter Schritt. Alternativ könnten wir eine offizielle Geburtsurkunde für Benjamin beschaffen, die ihn als Ihren leiblichen Sohn ausweist. Jetzt, da wir geklärt haben, dass es keine anderen Eltern gibt, die einen offiziellen Anspruch auf Vormundschaft haben, könnte das möglich sein. Natürlich setzt das voraus, dass Herr Petrow uns die Wahrheit gesagt hat – was wir im Moment annehmen, da alles zu unseren bisherigen Informationen passt. Aber am wichtigsten ist, dass diese Entscheidung für euch beide in Ordnung wäre.“
Ich verstand sofort, was sie meinte, und bevor ich es richtig bemerken konnte, platzte es aus mir heraus. „Ich möchte bei Mama bleiben!“ Mein Herz schlug wild, als ich die Worte sagte, als ob sich eine riesige Erleichterung mit der Angst mischte, sie könnte mir diesen Wunsch nicht erfüllen. Mama zog mich sofort fest an sich, und ich spürte, dass sie genauso erleichtert war wie ich.
Frau Grünwald und Alexej erhoben sich schließlich, doch bevor sie gingen, hockte sich Alexej noch einmal zu mir hinunter. Seine Augen wirkten schwer und voller Bedauern, als er zu sprechen begann. „Es tut mir wirklich leid, was du alles ertragen musstest, Benjamin, und ich weiß, dass ich schwere Fehler begangen habe. Ich wünsche dir und auch Ihnen, Frau Hofmeister, alles erdenklich Gute. Ich bin froh, dass Benjamin jemanden gefunden hat, zu dem er Vertrauen aufbauen konnte – und mehr noch, eine Mutter, die ihn wirklich liebt.“
Ich spürte, wie Mama schluckte, und als Alexej das sagte, begannen ihr Tränen über das Gesicht zu laufen. Sie hielt mich ganz fest an sich, als wollte sie mich nie wieder loslassen.
Alexej fuhr fort, seine Stimme sanft und fast flehend. „Wenn das alles vorbei ist und ich die Möglichkeit dazu bekomme, würde ich dich gerne wiedertreffen, Benjamin. Wenn du das nicht möchtest, verstehe ich das natürlich auch. Ich würde einfach nur gerne sehen, wie du dich entwickelst.“ Dann sah er zu Mama und fügte hinzu: „Das gilt natürlich nur, wenn es auch für Sie in Ordnung ist, Frau Hofmeister. Ich möchte mich nicht in euer Leben einmischen. Aber ich würde euch gerne finanziell unterstützen – das ist das Mindeste, was ich tun kann. An Geld liegt mir nicht viel, aber ich hoffe, so zumindest ein wenig Wiedergutmachung leisten zu können.“
Mama hatte eine belegte Stimme, als sie ihm antwortete. „Danke… dafür, dass Sie Benjamin gerettet haben. Ich glaube Ihnen, dass Sie Ihre Fehler bereuen – auch wenn sie ethisch nicht zu entschuldigen sind. Ob wir in Zukunft Kontakt haben werden, überlasse ich vollkommen Benjamin. Für mich wäre es in Ordnung, wenn er es wirklich möchte. Aber das sollte ich später mit ihm besprechen; er wird Zeit brauchen, um all das zu verarbeiten… genauso wie ich.“ Sie hielt kurz inne und sah Alexej ernst an. „Auch ich wünsche Ihnen alles Gute, Herr Petrow.“
Dann sah ich Alexej tief in die Augen. Ich wusste, dass ich ihm das sagen wollte, egal wie schwer es mir fiel. „Danke, Alexej, dass du mich da rausgebracht hast.“
Nachdem auch Frau Grünwald sich verabschiedet hatte, blieben wir noch einen Moment im Zimmer, zusammen mit Gustav und den anderen beiden Personenschützern. Mama behielt mich die ganze Zeit fest im Arm, und ich spürte, wie ihr Herzschlag ruhig und beständig gegen meine Schulter schlug. Es war, als wollte sie mir durch ihre Nähe zeigen, dass ich sicher war, dass sie da war und mich nicht loslassen würde.
Ich hatte erwartet, dass sie mich irgendetwas fragen würde, etwas zu all den Informationen, die wir gerade erfahren hatten, oder dass sie mir vielleicht erklären würde, was das alles bedeutete. Aber sie sagte kein Wort darüber. Stattdessen hielt sie mich einfach still im Arm und strich mir sanft über den Kopf. Ihre Hand bewegte sich beruhigend durch mein Haar, und das Gefühl ihrer Wärme ließ all die Fragen und Unsicherheiten für einen Moment in den Hintergrund rücken.
In diesem Augenblick verstand ich, dass manchmal Worte nicht nötig waren. Manchmal war es einfach genug, da zu sein und sich festzuhalten.
Kurz darauf verließen auch wir die Suite und gingen direkt zum Haupteingang, wo Heike bereits mit dem Auto auf uns wartete. Mama schnallte mich an, setzte sich neben mich, und kaum waren wir alle eingestiegen, ging die Fahrt auch schon los. Nach wenigen Minuten waren wir auf der Autobahn, und Gustav drehte sich kurz zu uns um.
„Ihr kennt das ja schon vom letzten Mal,“ erklärte er ruhig. „Wir werden jetzt noch einmal das Fahrzeug wechseln und dann einen kleinen Umweg machen, um mögliche Verfolger zu enttarnen. Also wird es ein wenig länger dauern als auf der Hinfahrt.“
Mama nickte verstehend und hielt meine Hand fest, während wir in die vorbeiziehenden Lichter der Autobahn sahen. Irgendwie beruhigte mich ihre Nähe, auch wenn die ganze Fahrt sich ein bisschen aufregender und ernster anfühlte als sonst.
Nach dem Wechsel in den eher unauffälligen VW Passat Kombi ging die Fahrt weiter, auch wenn die Beschleunigung beim Auffahren auf die Autobahn deutlich weniger beeindruckend war als im vorherigen Auto. Trotzdem spürte ich, wie sich langsam eine gewisse Ruhe in mir ausbreitete, und meine Augen wurden schwerer. Doch gerade als ich mich entspannt zurücklehnte, spürte ich plötzlich einen unangenehmen Druck in meinem Bauch. Ein Gefühl, das mir sagte, dass gleich etwas Größeres herauskommen wollte. Ich schaute zu Mama, die immer noch sehr nachdenklich wirkte, und wollte gerade sagen, dass ich dringend groß muss – doch es war zu spät. Ein seltsames, schmatzendes Geräusch verriet mir, dass sich alles bereits seinen Weg in die Windel gebahnt hatte.
Es war ganz anders als sonst: viel weicher und der Geruch war sofort stark und unangenehm. Meine Wangen brannten, und ich spürte die ersten Tränen, die mir in die Augen schossen. Mama bemerkte es sofort, streichelte mir sanft übers Gesicht und beruhigte mich leise.
„Heike,“ sagte sie dann sanft, „wir müssten bitte so schnell wie möglich einen Wickelraum ansteuern.“
Heike warf uns einen kurzen, aufmunternden Blick zu und antwortete in leicht erheitertem Ton: „Bin schon dran. Die nächste Raststätte ist unsere.“ Neben ihr gab Gustav eine kurze Nachricht über Funk weiter, wahrscheinlich an das Fahrzeug hinter uns, und informierte sie über den bevorstehenden Stopp.
Heike kommentierte meinen Unfall beiläufig und mit einem leichten Lächeln: „War wohl zu viel Aufregung für den Kleinen.“ Mama streichelte mir sanft über die Haare und sprach leise, als ob die Worte nur für mich bestimmt wären. „So viel Aufregung kann einem wirklich auf den Magen schlagen. Ist nicht schlimm, Benni – wir sind vorbereitet.“
Am nächsten Parkplatz stiegen wir schließlich alle aus. Ein schwarzer BMW parkte direkt hinter uns, und ich konnte einen der Personenschützer aus dem Hotel auf dem Beifahrersitz erkennen. Heike nahm die Wickeltasche aus dem Kofferraum, und gemeinsam machten sich Gustav, Heike und Mama – die mich fest im Arm hielt – auf den Weg in die Raststätte.
Im Wickelraum angekommen, merkte ich, wie unangenehm alles geworden war. Mama musste mir sogar die Hose wechseln, da etwas ausgelaufen war, und der Gestank war wirklich schlimm. Doch Mama lächelte mich an und machte mich liebevoll sauber, als ob nichts anderes auf der Welt wichtiger wäre. Ihr Lächeln und die Geduld, mit der sie sich um mich kümmerte, machten alles nur halb so schlimm, und ich fühlte mich wieder etwas besser.
Es war ein wirklich schönes Gefühl, wieder in einer frischen Windel zu stecken. Mama zog mir gerade eine graue Jogginghose hoch, und ich spürte, wie sie mir einen liebevollen Kuss auf die Wange gab. „So, mein kleiner Schatz, alles wieder frisch,“ sagte sie sanft, und ich konnte nicht anders, als mich sicher und geborgen zu fühlen.
Mama nahm mich wieder auf den Arm, und zusammen verließen wir den Wickelraum. Vor der Tür warteten bereits Heike und Gustav, die anscheinend erleichtert aussahen, nicht im Wickelraum Wache stehen zu müssen. Heike hatte den Raum vorher geprüft, also waren sie wirklich auf alles vorbereitet gewesen.
Als wir wieder im Auto saßen und Mama mich angeschnallt hatte, überkam mich plötzlich eine tiefe Müdigkeit. Es war, als hätte die ganze Anspannung und Aufregung des Tages meine Energie komplett aufgebraucht. Kaum hatte Mama mich angeschnallt und sich neben mich gesetzt, gingen meine Augen zu, und ich glitt in einen tiefen, erholsamen Schlaf.
Fortsetzung folgt….
Autor: michaneo (eingesandt via E-Mail)
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Wieder ein schöner Abschnitt. Und die Aufklärung ist Mega. Lass dich bitte nicht hetzen. Die Qualität der Geschichte ist wirklich überragend. Ich weis, jede Geschichte hat mal ein Ende, aber ich hoffe, das dauert hier noch ein wenig. 😅
Danke
Ich finde dieser Geschichte sehr schön, ich hoffe, dass sie noch ein bisschen länger geht. Nur weiter so
Wann kommt 19 mach es nicht zu spannend
Vielen Dank für den tollen Teil freu mich schon auf die nächsten.
Aber lass dir ruhig Zeit und lass dich nicht stressen, ich persönlich mag eher die längeren Kapitel daher warte ich auch gern 2-3 Tage.
Ich bemerke, das Du Dir beim schreiben wirklich viele Gedanken über die Details der Geschichte gemacht hast. Ich konnte mich wieder gut in Charaktere einfühlend und hatte wieder viel Freude beim lesen. Freu mich schon auf den nächsten Teil. Auch schön das nun etwas mehr Klarheit in die Geschichte gekommen ist. Dann hoffe ich nun auch, das daß Leben allmälig ruhiger wird für Benjamin und seine neue Mama.
Wann 19 heute
Das hast du absolut nicht zu bestimmen… Man sagt nicht umsonst gut Ding will Weile haben.
Wirklich sehr Emotional Tolle Geschichte bitte mehr Danke
So ähnlich hatte ich es mir schon gedacht.
Man könnte denken, dass tatsächlich jeder Mensch eine Seele hat, die sich nicht übertragen lässt. Körper und Gehirn nebst Speicherinhalt sind eine 100% Kopie. Trotzdem ist es ein anderer, eigenständiger Mensch. Deshalb bleiben die Erinnerungen eine leere Hülle ohne Gefühle.
Was wohl mit dem älteren Benjamin Stenzel passiert ist?
Wirklich beeindruckend! Also doch ein Klon. Klingt fast, als ob du auf den Miliardär anspielst, der den Blut transfer oder was das war mit seinem Sohn macht 🙂
Jetzt wundert es mich auf jeden Fall nicht mehr, dass da zu solchen Längen gegangen wird, um das Kind aus dem Weg zu räumen…
Du machst klasse Geschichten es ist schön die zu lesen tut mir leid das ich fragte wegen teil 19 aber die Geschichten gefallen mir am besten bitte mache es nicht zu spannend
Kanns kaum erwarten weiter zu lesen!
Sehr gute Geschichte wann 19 machst nicht so spannend