Zwischen Gestern und Morgen (3)
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Jetzt der richtige 3 Teil, da ist mir wohl eim Fehler unterlaufen. Sorry
Feedback ist weiterhin erwĂŒnscht und neben der Freude an der eigenen Geschichte die gröĂte Motivation.
Und weiter geht es mit dem kleinen Abenteuer.
Andrea ergriff zuerst das Wort: âBenjamin, geht es dir nicht gut?â
Ich wusste immer noch nicht, was ich sagen sollte. Diese Bilder machten mir panische Angst.
Ich kann mich nicht erinnern, jemals in Prag gewesen zu sein.
Aber ich bin mir sicher, dass es Prag war â es fĂŒhlte sich echt an.
Ich konnte die Menschen riechen, die KĂ€lte spĂŒren.
âBenjamin, sprich mit unsâ, wiederholte Andrea.
Katja meldete sich zu Wort: âEs wĂ€re besser, wenn Sie jetzt gehen und Benjamin etwas Ruhe geben.â
Herr Hauser schien nicht begeistert von dieser Idee,
besonders da er gerade den Eindruck hatte, einen Durchbruch zu erzielen.
âEs wĂ€re wichtig, dass wir jetzt dranbleiben. Sie mĂŒssen doch merken,
dass sich der Junge gerade an etwas Entscheidendes erinnert!â versuchte er zu argumentieren.
âJa, das sehe ichâ, erwiderte Katja ruhig, âaber Sie mĂŒssen auch sehen,
dass Sie hier mit einem kleinen Jungen von sieben oder maximal acht Jahren sprechen.
Viel mit Kindern haben Sie in Ihrem bisherigen Leben anscheinend nicht gearbeitet, oder?
Bedenken Sie, dass er das Opfer einer traumatischen Erfahrung ist und kein StraftĂ€ter, den Sie verhören!â
Ich glaube, Herr Hauser hatte gerade den BeschĂŒtzerinstinkt einer Löwenmutter geweckt.
Dem konnte Herr Hauser nicht viel entgegensetzen. Er blickte in die Runde und sagte dann:
âSie haben recht. Ich bin etwas ĂŒbers Ziel hinausgeschossen. In diesem Fall wĂ€re etwas mehr SensibilitĂ€t wirklich besser gewesen.â
AnschlieĂend wandte er sich direkt an mich:
âBenjamin, es tut mir aufrichtig leid. Auch als erwachsener Mann sollte man einsehen, wenn man Mist gebaut hat.
Nur um das klarzustellen: Ich glaube nicht, dass du irgendetwas falsch gemacht hast. Ich möchte die Angelegenheit auch in deinem Interesse aufklÀren.
Also melde dich bitte, wenn dir etwas einfĂ€llt, das mir helfen könnte, Licht ins Dunkel zu bringen.â
Mit diesen Worten verlieĂen die beiden Polizisten das Zimmer.
âMit dieser Reaktion hĂ€tte ich jetzt aber nicht gerechnet, vielleicht ist er ja gar nicht so verkehrtâ, kommentierte Katja.
Als wir wieder alleine waren, sprach Andrea zu Katja: âIch glaube, er steht unter Schock.
Herr Peters sollte heute Dienst haben, kannst du ihn anrufen?â
Keine Minute spĂ€ter stand ein Ă€lterer, krĂ€ftig gebauter Arzt im Zimmer. âWo brenntâs denn?â
fragte er, wÀhrend Andrea versuchte, das Problem zu schildern.
âUnser kleiner Patient hier steht gerade etwas neben sich.
Ich wĂŒrde ihn gerne einmal komplett duschen. Können Sie Ihr Okay geben, wenn wir die VerbĂ€nde entfernen?
Eigentlich wollte Herr Kurz spĂ€ter nach der Wundheilung sehen, aber ich möchte Benjamin in diesem Fall nicht so lange warten lassen.â
Herr Peters zögerte nicht und kommentierte auch den Geruch, der von mir ausging, mit keiner Silbe.
âKlar, das kriegen wir schon hinâ, sagte er und wandte sich meinen Beinen zu.
Dann begann er, meine VerbĂ€nde vorsichtig zu entfernen. âDas könnte jetzt mal kurz ziehen, wenn ich den Verband abnehmeâ, erklĂ€rte er,
aber ich spĂŒrte kaum etwas. Immer wieder sah ich diesen Schriftzug vor meinen Augen und das GefĂŒhl,
dass ich so schnell wie von dort verschwinden muss, ĂŒberwĂ€ltigte mich.
Katja und Andrea standen links und rechts von mir und schwiegen, wÀhrend Herr Peters seine Arbeit mit den Worten
âDas warâs schon, sieht alles sehr gut aus. Einen neuen Verband brauchen wir nicht. In einer Woche ist davon so gut wie nichts mehr zu sehenâ
beendete. Dann musterte er mich. âWie lange ist er schon in diesem Zustand?â
Katja antwortete: âWenn man die Zeit Ihrer Behandlung mit einrechnet, etwa 20 Minuten.â
Andrea ergĂ€nzte: âEr hatte gerade ein aufwĂŒhlendes GesprĂ€ch mit einem Polizisten.
Wir wissen nicht genau, welche Information den Schock ausgelöst hat. Es könnte mit seiner Amnesie zusammenhĂ€ngen.â
âEr sollte auf jeden Fall mal mit Herrn Huber sprechenâ, kommentierte Herr Peters das Gehörte.
Andrea antwortete: âJa, das war sowieso fĂŒr morgen geplant. Es wĂ€re nur besser gewesen,
wenn der Kinderpsychologe heute schon Zeit fĂŒr ihn gehabt hĂ€tte. Dann wĂ€re so etwas vielleicht vermeidbar gewesen.â
âHerr Huber ist gut und findet meistens einen Draht zu unseren kleinen Patienten, aber Wunder kann auch er nicht vollbringenâ, meinte Katja.
Bevor Herr Peters sich zur TĂŒr wandte, sagte er noch:
âWenn er nachher ein leichtes Beruhigungsmittel fĂŒr die Nacht braucht, gebt mir einfach Bescheid.â
Katja drĂŒckte mich sanft von der sitzenden in eine liegende Position, wĂ€hrend Andrea mir die Hose auszog.
âWir machen dich jetzt so gut es geht sauber und danach gehst du einmal unter die Dusche, okay?â
Ich nahm alles um mich herum wahr, aber meine Starre wollte sich einfach nicht lösen.
Erst als Andrea die Windel zusammenrollte und in Richtung Flur trug, begann ich, mich zu regen. Katja half mir vom Bett und schob mich sanft in Richtung Badezimmer.
Das Abduschen und ZĂ€hneputzen nahm ich nur als passiver Beobachter wahr, nicht als aktiver Teilnehmer.
Wieder im Bett zog Katja mir eine neue Windel und ein Krankenhaushemd an.
Sie flĂŒsterte Andrea zu, dass sie noch eine Weile im Aufenthaltsraum wĂ€re, und verlieĂ das Zimmer.
Andrea setzte sich neben mich und streichelte mir gelegentlich durchs Haar.
An Schlaf war trotz ĂŒberwĂ€ltigender MĂŒdigkeit nicht zu denken.
Ich wollte diese Bilder vergessen oder zumindest nicht mehr daran denken. Aber wie?
Mit festem Griff drĂŒckte ich das Kuscheltier, das mir Katja heute Mittag gegeben hatte, an mich.
Es war ein Trost, aber nicht genug.
Andrea ĂŒberlegte schon, ob sie das Angebot von Herrn Peters annehmen sollte, als Benjamin nach anderthalb Stunden immer noch nicht eingeschlafen war.
Da begann ich leise zu erzĂ€hlen: âDer Polizist hat von Praha gesprochen. Ich habe Angst vor diesem Ort.
Ich habe Bilder in meinem Kopf gesehen von einem groĂen Schriftzug auf einer Glasfront mit dem Wort Praha.
Dieser Ort bedeutet Gefahr fĂŒr mich. Ich habe furchtbare Angst vor diesem Ort. Bitte, ich will nicht dahin zurĂŒck! Bitte!â
Andrea legte sich neben mich aufs Bett und drĂŒckte mich an sich, wĂ€hrend sie beruhigend auf mich einredete:
âDu musst nicht zurĂŒck nach Prag. Du bist jetzt hier in Sicherheit, wir passen auf dich auf, versprochen.â
Nachdem sie das mehrmals wiederholt hatte, wurde mein Atem gleichmĂ€Ăiger. WĂ€hrend sie leise vor sich hin flĂŒsterte:
âWas haben sie mit dir gemacht? Wer tut so etwas einem Kind an?â, schlief ich schlieĂlich ein.
An diesem Morgen wurde ich nicht geweckt â man hatte mich ausschlafen lassen. Als ich die Augen öffnete,
blinzelte ich Katja an, die neben meinem Bett saĂ und etwas auf ihrem Handy las.
Sie legte es sofort beiseite, als sie merkte, dass ich wach war.
Sie sprach leise, fast flĂŒsternd:
âGuten Morgen, Benjamin.â
âGuten Morgenâ, kam leise von mir zurĂŒck â vermutlich mehr, als sie erwartet hatte
.
âWillst du erst etwas essen oder sollen wir dich zuerst im Badezimmer frischmachen und dir neue Sachen anziehen?
Die Frau vom Jugendamt war vorhin da, als du noch geschlafen hast. Sie hat dir eine Tasche mit passender Kleidung vorbeigebracht.
Ich hoffe, du bist mir nicht böse, dass du sie verpasst hast?â
Nein, ich bin sogar froh darĂŒber und ich denke das Katja das weiĂ.
Hunger hatte ich keinen, aber etwas zu trinken wĂ€re toll. âKann ich einen Kakao bekommen?â
Ein kurzes LĂ€cheln erhellte Katjas Gesicht. âNa, das ist ja schon mal ein Anfang.
Ein Kakao kommt sofortâ, sagte sie und versuchte, meine Stimmung zu heben â mit Erfolg.
Ich musste lachen, als sie den Kakao mit einer Geste und den dazu passenden GerÀuschen wie ein landendes Raumschiff vor mir abstellte.
Auch ihr war die Erleichterung anzusehen, als sie merkte, dass ich darauf ansprang.
âMöchtest du gar nichts essen? Du könntest zur Abwechslung auch mal Cornflakes bekommen?â
Katja hatte gerade meine volle Aufmerksamkeit gewonnen. Ich weiĂ nicht, wie sie das macht, aber es tut gut. âSchoko-Cornflakes?â fragte ich vorsichtig.
Katja konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. âDa lĂ€sst sich bestimmt was machen.â âAu ja, lecker!â das konnte ich mir nicht verkneifen,
Schoko-Cornflakes das ist wie Kakao trinken nur besser.
WĂ€hrend Katja die Cornflakes organisierte, kuschelte ich mich an das kleine Nilpferd mit dem Logo des Krankenhauses auf dem Bauch. Es hĂ€tte ruhig ein bisschen gröĂer sein können.
Ich war im Zwiespalt mit meiner Persönlichkeit. Einerseits hatte ich die Erinnerungen an ein anderes Leben, andererseits fĂŒhlte ich mich eher wie ein Kind, als wĂŒrden zwei Gedankenwelten aufeinanderprallen.
War ich jemals erwachsen? Bin ich wirklich Benjamin Stenzel? Oder bilde ich mir das nur ein? Aber woher kommt dann all das Wissen ĂŒber dieses andere Leben? Stimmen die Dinge, die ich glaube zu wissen, ĂŒberhaupt?
Ich brauche eine Möglichkeit, das zu ĂŒberprĂŒfen. Ein internetfĂ€higes GerĂ€t und etwas Zeit wĂ€ren ein guter Anfang!
âBenjamin? BENJAMIN, ist alles gut bei dir?â Katja riss mich aus meinen Gedanken.
Vor mir stand eine groĂe SchĂŒssel mit Schoko-Cornflakes, die nur darauf wartete, von mir gegessen zu werden.
Eben dachte ich noch, ich hÀtte keinen Hunger, aber das war jetzt egal.
Mein Ziel war klar: Diese Cornflakes mussten verputzt werden, und zwar in atemberaubender Geschwindigkeit.
âWir sollten dich langsam vorzeigbar machenâ, sagte Katja, wĂ€hrend sie lĂ€chelte. âWir haben gleich einen Termin bei Herrn Huber.
Er wird dir helfen, die Ereignisse der letzten Zeit einzuordnen und zu verarbeiten. Keine Sorge, er hat einen echt guten Draht zu Kindern.â
âOkay, bist du bei mir, wenn ich bei Herrn Huber bin?â fragte ich, denn die Vorstellung, alleine hinzugehen, machte mich nervös.
âNein, du bist mit dem Psychologen allein, aber keine Sorge, er ist sehr lieb. AuĂerdem bringe ich dich hin und hole dich danach wieder ab.
Es ist nur eine Etage weiter oben.â
Dann begann die morgendliche Routine. Nachdem meine Windel gewechselt wurde â und wie zu erwarten war sie gut genutzt â schickte mich Katja ins Bad,
um auf die Toilette zu gehen, zu duschen und ZĂ€hne zu putzen. Beim Anziehen half sie mir, obwohl ich keinen Verband mehr trug. Heute gab es kindgerechte
UnterwĂ€sche, wobei die Unterhose unangenehm ĂŒber der Windel spannte â sie war dafĂŒr wohl nicht gedacht â und einen sehr weichen, blauen Pullover ohne Motiv
sowie eine Jeans-Latzhose. âDas steht dir, du siehst richtig schick aus. Vor allem mit deinen frisch gewaschenen Haarenâ,
meinte Katja lachend. Ich wurde rot, obwohl ich mich in den Sachen eigentlich ganz wohlfĂŒhlte.
Der Weg nach oben war nicht sonderlich spannend, da viel Betrieb auf den Fluren herrschte â etwas, das man im Zimmer gar nicht so mitbekommt.
Katja klopfte an die TĂŒr, auf der in bunten Buchstaben âProf. Dr. Dr. Huberâ stand.
Kurz darauf öffnete ein Mann mittleren Alters die TĂŒr. So hatte ich mir einen Professor nicht vorgestellt â groĂ, sportlich, ohne Bart, aber mit einem freundlichen LĂ€cheln.
âHallo Benjamin, du kannst mich Thomas nennen. Schön, dass du da bist. Ich dachte schon, du wolltest mich heute doch nicht besuchenâ,
sagte er, zwinkerte Katja zu und schob mich sanft ins Behandlungszimmer. âIch gebe dir Bescheid, wenn wir soweit sind,
dass du ihn abholen kannstâ, sagte er zu Katja, bevor er die TĂŒr hinter uns schloss.
Das Zimmer ĂŒberraschte mich â es war kein typisches Behandlungszimmer, sondern ein riesiges Spielzimmer.
Ein Regal voller Lego-Technik-Sets, eine Malecke, Kisten mit Puppen und Autos, ein kleiner Tisch mit StĂŒhlen in KindergröĂe und ein groĂes Sitzkissen.
Im hinteren Teil stand ein edler Schreibtisch mit einem PC und einer Stereoanlage samt Schallplattensammlung. Dieser Raum strahlte Sympathie aus.
âSchau dich ruhig um, du darfst alles anfassen. Wenn du magst, kannst du mir etwas ĂŒber dich erzĂ€hlen, aber du musst nichtâ,
bot Thomas mir an. Ich war unsicher, wohin ich zuerst gehen sollte. Das Lego sah toll aus, aber auch der Plattenspieler zog meine Aufmerksamkeit auf sich.
SchlieĂlich entschied ich mich fĂŒr die Plattensammlung. Da fiel mir eine Platte sofort ins Auge: Ein rosa Cover von Linkin Park, meiner Lieblingsband,
mit dem Titel âThe Emptiness Machineâ. Es schien eine Single zu sein, aber ich hatte nicht damit gerechnet, dass es nach Chester Benningtons Tod noch etwas Neues geben wĂŒrde.
Eine Frau war zwischen den restlichen Bandmitgliedern abgebildet, dafĂŒr fehlte Chester. Bin ich vielleicht in einem Paralleluniversum?
Das wĂŒrde zumindest einiges erklĂ€ren.
âDarf ich diese Platte mal hören?â fragte ich neugierig. âHast du sie wohl im Radio gehört? LĂ€uft ja rauf und runter seit ihrem Neustart dieses Jahr.
Leg sie ruhig auf, ich kann auch nicht genug davon bekommen.â âNeustart?â fragte ich interessiert. âJa, aber das kannst du ja nicht wissen, dafĂŒr bist du noch zu jung.
Diese Band gibt es schon sehr lange.â âJa, seit 1996â, unterbrach ich ihn. âZuerst als Xero, dann Hybrid Theory und ab 1999 als Linkin Park.â
Thomas war erstaunt. âWow, das hĂ€tte ich dir nicht zugetraut! Da kennt sich aber jemand aus.â
Dann erzĂ€hlte er weiter: âNach Chester Benningtons Tod im Jahr 2017 kam Emily Armstrong als neue SĂ€ngerin dazu.â Das klang fĂŒr mich falsch.
Wie konnte das so schnell passieren? Thomas erklĂ€rte: âSeit 2017 haben sie keine neue Platte veröffentlicht,
das war vermutlich vor deiner Geburt oder du warst noch viel zu jung. Das ist jetzt sieben Jahre her.â
Sieben Jahre? Das hieĂe, es ist 2024 â ich wĂ€re also 44, nicht 37. Das saĂ tief.
Plötzlich fĂŒhlte ich mich, als mĂŒsse ich mich setzen, wobei das mehr ein auf den Hosenboden Fallen war als eine strukturiere elegante Bewegung.
âist dir nicht gut, möchtest du was Trinken? Du wirst ja ganz blass, nicht das du mir hier umfĂ€llst!â
Thomas hob mich ohne Vorwarnung hoch und legte mich auf eine Couch, die ich hinter seinem Schreibtisch gar nicht wahrgenommen hatte.
Mit belegter Stimme sagte ich: âNein, es geht schon wieder. Mir ist nur gerade etwas klar geworden, was mich ein wenig aus der Bahn geworfen hat.â
âMagst du mir vielleicht erzĂ€hlen, was dich gerade so bewegt?â
âIch weiĂ nicht, ob ich das möchte. Ich denke, du wĂŒrdest mir nicht glauben und mich fĂŒr einen LĂŒgner oder Spinner halten.â
âDa musst du dir wirklich keine Sorgen machen. Du kannst mir im Grunde alles erzĂ€hlen. Ob das die Wahrheit ist oder nicht, spielt fĂŒr mich keine Rolle.
Ich möchte dir helfen, das was dich beschĂ€ftigt, zu verarbeiten. Vielleicht kann ich dir sogar eine Lösung fĂŒr das ein oder andere Problem anbieten,
die man als AuĂenstehender mit etwas Abstand sieht. Egal, was du mir erzĂ€hlst, es bleibt in diesem Raum. Es sei denn, du möchtest,
dass ich mit jemandem darĂŒber spreche. Ich habe eine Ă€rztliche Schweigepflicht, auch gegenĂŒber deinen Eltern,
und die nehme ich sehr ernst. Und das Beste ist, dass du hier im Zimmer mit allem spielen kannst,
wĂ€hrend du mir etwas von deinem bisherigen Leben erzĂ€hlst. Was hĂ€ltst du davon?â
Sein Angebot klang sehr verlockend, nicht nur wegen dem Lego, obwohl ich schon ziemlich Lust hatte, etwas zu bauen.
Auch die Ă€rztliche Schweigepflicht fand ich gut. So könnte ich zumindest mit jemandem ĂŒber all das reden.
Ich stand auf und ging zu dem Regal mit dem Lego. Ich schnappte mir einen Karton mit einem sehr groĂen Lego-Technik-Bagger darauf.
âHilfst du mir beim Aufbauen?â fragte ich ihn.
Thomas setzte sich zu mir an den kleinen Tisch mit den KinderstĂŒhlen. âDu weiĂt schon, dass der nicht unbedingt
fĂŒr deine Altersklasse ist und viele Stunden braucht. Aber wenn du möchtest, helfe ich dir gerne.
Bisher habe ich ihn noch mit keinem Patienten fertigbekommen.â
âMeine Lebensgeschichte ist auch wesentlich lĂ€nger als das deiner gewöhnlichen Patienten,
und das mit dem Bagger verstehe ich als Herausforderungâ, entgegnete ich ihm.
Damit begann eine sehr lange Unterhaltung. Ich erzÀhlte ihm alles, was ich wusste.
Ich berichtete ihm meinen bisherigen Lebenslauf, angefangen von meiner Kindergartenzeit bis hin zu meinem letzten Job.
Thomas hörte aufmerksam zu, stellte ab und zu Fragen. Manchmal stellte er mir Nachdenklich Fragen zu geschichtlichen Ereignissen
wie ich sie Persönlich erlebt habe oder glaube sie erlebt zu haben, z.B. den Fall der Mauer oder was mein erstes Mobiltelefon war.
Als wir fĂŒr den heutigen Tag Schluss machten, war es drauĂen dunkel. Meine Hose hatte mehr als nur feuchte Flecken, weil die Windel ihre KapazitĂ€ten ĂŒberschritten hatte,
und ich hatte mĂ€chtigen Hunger. AuĂerdem war ich ziemlich mĂŒde.
Als Katja mich zusammen mit Andrea in Empfang nahm, schaute sie etwas erstaunt auf die Uhr. âDas ist ein neuer Rekord, Thomas.
Das waren jetzt bestimmt neun Stunden. Benjamin sieht ja völlig fertig aus, aber nicht unzufriedenâ, musste sie lĂ€chelnd eingestehen.
âJa, Benjamin hat mich in vielerlei Hinsicht ĂŒberrascht. Wir machen morgen nach dem FrĂŒhstĂŒck weiter.
Ich habe meine restlichen Termine fĂŒr morgen abgesagt. Lass ihn morgen ruhig ausschlafen, und wir werden auch ein paar mehr Pausen einlegen.â
âDas will ich aber auch meinen. Etwas zu essen und eine frische Hose wĂŒrden ihm auf jeden Fall guttunâ, meinte Katja halb ernst
und nahm mich an die Hand. Auf dem Weg nach unten nahmen mich die beiden in die Mitte, was ich toll fand. So konnte mir nichts passieren.
âWas macht dein Hunger?â fragte mich Andrea.
âIch hĂ€tte gerne mein Mittagessen und Abendessen plus ein extra Dessert.â
Die beiden lachten. âSchön, dass es dir besser geht. Mal sehen, was die KĂŒche fĂŒr dich,
unseren ausgehungerten Wackelzahn, ĂŒbrig hat.â
Wackelzahn, natĂŒrlich! Warum hatte ich nicht gleich daran gedacht? Ich hatte mir den Schneidezahn nicht ausgeschlagen.
Das war mit Sicherheit ein Milchzahn, der bald rauswachsen wĂŒrde.
Im Zimmer angekommen, bugsierte mich Andrea sofort ins Badezimmer. âKatja geht die KĂŒche plĂŒndern,
und ich lege dich erstmal trocken. Du bist ja mehr als ĂŒberfĂ€llig.â
Dem konnte ich nichts hinzufĂŒgen. Meine Hose sah so aus, als hĂ€tte ich ohne Windel eingepullert.
Ich denke, Thomas hatte das in Kauf genommen, um meinen Redefluss nicht zu unterbrechen.
Diesmal gab es einen richtigen Schlafanzug mit einem TeddybÀren auf dem Bauch. Katja musste schmunzeln,
als sie mich so auf dem Bett sitzen sah. âIch wĂŒnsche dir guten Appetit, und wir sehen uns morgen wieder.
Schlaf gut, mein Kleiner.â
Damit verabschiedete sich Katja aus dem Zimmer, und Andrea schaute mir zu, wie ich den Teller mit Milchreis,
Kompott und zwei Wurstbroten innerhalb kĂŒrzester Zeit verputzte. Ein extra Dessert suchte ich vergebens.
Schade eigentlich. Kaum war ich fertig, lieĂ ich mich in mein Kopfkissen fallen.
Andrea rÀumte noch das Tablett weg und setzte sich wieder auf ihren angestammten Platz neben meinem Bett,
um mich ins Reich der TrĂ€ume zu begleiten. âSchlaf gut, Benjamin, und trĂ€um was Schönesâ, sagte sie und streichelte noch ein wenig meinen Kopf.
Doch das nahm ich nur noch am Rande wahr, da die MĂŒdigkeit diesmal sehr schnell zugeschlagen hatte.
In dieser Nacht hatte ich leider keine guten TrÀume. Als ich das erste Mal hochschreckte, war ich allein im Zimmer und mein Bett war nass.
Sofort ĂŒberkam mich die Angst. Es waren wieder dieselben Bilder. Mein Schluchzen musste Andrea durch die nur angelehnte TĂŒr gehört haben.
Sie schaltete ein kleines Licht ein und kam direkt zu mir ans Bett, wo ich bereits die Bettdecke zurĂŒckgeschlagen hatte.
Ich hatte auf einer Krankenunterlage mit Saugvlies geschlafen, aber diese hatte nicht viel ausrichten können, da ich sie im Schlaf völlig zerwĂŒhlt hatte.
âEs ist alles gut, Benni, das bekommen wir in Nullkommanichts wieder hin,â sagte sie beruhigend.
Sie breitete eine neue Krankenunterlage auf dem mit Folie abgedeckten Bett neben mir aus und hob mich einfach rĂŒber.
AnschlieĂend half sie mir aus dem nassen Schlafanzug und legte mir gleich eine frische Windel an.
WĂ€hrend ich nur in der Windel auf dem Nachbarbett saĂ, suchte Andrea in den Sachen vom Jugendamt nach einem neuen Schlafanzug fĂŒr mich.
In dem Moment betrat eine sehr junge Krankenschwester das Zimmer.
Andrea musste einen der Taster an der Wand betÀtigt haben, ohne dass ich es mitbekommen hatte.
âSuper, das ging ja schnell. Das ist Jenny, sie hat heute Nacht Dienst mit mir auf der Station,â stellte Andrea die junge Frau vor.
âJa, ich war gerade auf dem Gang,â antwortete Jenny.
âDer junge Mann dort auf dem Bett hatte ein kleines Malheur. Könntest du uns bitte aus der WĂ€schekammer einmal alles holen?â
Jenny schien sofort zu wissen, was Andrea meinte, und eilte mit den Worten âDas ist doch eines unserer leichtesten Ăbungenâ aus dem Zimmer.
Zu mir gewandt sagte Andrea: âKeine Sorge, dass haben wir auf der Kinderstation mindestens einmal pro Nacht, absolute Routine.â
Mit einem schlichten weiĂen T-Shirt und einer roten Jogginghose kam Andrea schlieĂlich wieder zu mir ans Bett.
âLeider haben wir keinen weiteren Schlafanzug. Ich werde morgen mal bei mir auf dem Dachboden schauen â ich sollte noch einiges von meinem GroĂen haben.â
WĂ€hrend mir Andrea in die Hose und das T-Shirt half, kĂŒmmerte sich Jenny, die erstaunlich schnell wieder da war, um mein Bett.
Die ganze Aktion dauerte keine zehn Minuten, und ich lag schon in einem frisch bezogenen Bett, wĂ€hrend Andrea auf der Bettkante saĂ.
Jenny hatte das Zimmer wieder verlassen.
âSiehst du, als wĂ€re nichts gewesen,â sagte Andrea zu mir.
âWo ist das Nilpferd?â fragte ich.
âOh, das ist, glaube ich, auf Nil-Rundfahrt in der Waschmaschine. Es hat ganz schön was abbekommen,â gab Andrea zurĂŒck.
âAndrea?â fragte ich fast flĂŒsternd. Andrea stand auf und hockte sich neben das Bett, sodass sie mit mir auf Augenhöhe war.
âIch habe immer noch Angst. Ich habe wieder von Prag getrĂ€umt,â sagte ich leise.
Ihr Blick wurde sehr weich. Ich glaube, dass sie das auch mitnahm.
âJa, das glaube ich dir. Du bist jetzt hier, und wir beschĂŒtzen dich, versprochen!â
Danach setzte sie sich neben mich, regelte das Licht herunter und hielt meine Hand, bis ich eingeschlafen war.
Beim nÀchsten Hochschrecken war sie immer noch neben mir. Das wiederholte sich wohl noch mehrere Male in dieser Nacht,
aber an einen GroĂteil davon kann ich mich nicht mehr erinnern.
Trotz der Unterbrechungen fĂŒhlte ich mich am nĂ€chsten Morgen ziemlich fit.
Andrea war schon weg, und Katja zog gerade die VorhÀnge auf, als ich erwachte.
âGuten Morgen, kleiner Schlafratz. Andrea hat mir erzĂ€hlt, dass du eine anstrengende Nacht hinter dir hast.
Deshalb haben wir dich bis jetzt schlafen lassen. Aber das Mittagessen wollte ich dich nicht verpassen lassen,
das wĂ€re ja unverantwortlich,â sagte sie mit einem warmherzigen LĂ€cheln.
Mittagessen? So spÀt? Mein knurrender Magen stimmte Katja zu. Als ich die Decke weggeschlagen hatte,
sah ich, dass die Windel auch diesmal das Maximum ihrer KapazitĂ€t ĂŒberschritten hatte.
Dieses Mal waren aber nur meine Hose und die Unterlage nass, das restliche Bett blieb trocken.
âBei deinen Windeln mĂŒssen wir mal schauen, dass wir zumindest fĂŒr die Nacht etwas bekommen, das mehr aufnimmt,â
kommentierte Katja den Zustand meiner Hose.
Es begann das ĂŒbliche morgendliche Spiel: Windel ab, duschen, ZĂ€hneputzen, frische Windel und Anziehen mit Hilfestellung.
Ich fand die Routine gut, sie gab mir das GefĂŒhl von BestĂ€ndigkeit und Sicherheit.
Die Unterhose spannte auch heute wieder ziemlich ĂŒber der Windel, aber darĂŒber gab es eine dunkelblaue Jeanshose mit Gummizug,
die sie ganz bequem machte. Mein hellblauer Pullover war heute mit einem lachenden Lightning McQueen verziert.
Meine Bettdecke war weg, als ich mich zum Mittagessen auf mein Bett setzte. Ich nehme an, Katja hat sie zur WĂ€sche gegeben,
als sie die Krankenunterlage ausgetauscht hat. Zum Essen gab es Kartoffeln mit Spinat und Ei â definitiv nicht meine Favoriten,
aber ich hatte Hunger und es gab reichlich Tee zum RunterspĂŒlen. DafĂŒr schmeckte der Schokoladenpudding mit Sahne umso besser.
âJetzt waschen wir noch mal dein Gesicht, und wenn du möchtest, kannst du noch mal auf die Toilette, bevor wir zu deinem Termin gehen,â
sagte Katja, als sie mich ins Badezimmer begleitete.
Ich wollte nicht. Der Lego-Bagger rief. âMuss nicht,â gab ich zurĂŒck, obwohl das nicht ganz stimmte.
WĂ€hrend ich am Waschbecken stand, spĂŒrte ich, wie mein Schritt wieder warm wurde.
Zu meiner Verteidigung sei gesagt, dass es sich vorher nicht angekĂŒndigt hatte.
Oben im Behandlungszimmer angekommen, stĂŒrmte ich direkt zum Tisch mit der angefangenen Lego-Baustelle von gestern
und begann schon mal weiterzubauen.
Thomas schien noch kurz etwas mit Katja zu besprechen, was ich nur am Rande registrierte.
Kurz darauf setzte er sich zu mir und reichte mir die passenden Steine laut Anleitung.
âDu machst das schon ziemlich gut. Ich habe mir gestern Abend noch einige Gedanken ĂŒber all das gemacht,
was du mir erzĂ€hlt hast, und die halbe Nacht mit Recherchen verbracht.â
Ich schaute kurz in sein Gesicht, da er wohl auf eine Reaktion wartete. Das schien ihn aus seinen Gedanken zu reiĂen.
âEs gibt eine Form der Amnesie, bei der Menschen mit einem SchĂ€del-Hirn-Trauma GedĂ€chtnislĂŒcken mit falschen Erinnerungen fĂŒllen,
ohne dass sie es wissen. Man nennt das Konfabulation. Aber vieles spricht dagegen.
Deine Erinnerungen sind zu detailliert â du mĂŒsstest sie vorher komplett einstudiert haben,â sagte er.
Mit groĂen Augen sah ich ihn an: âDu glaubst mir also, dass ich mir das nicht ausgedacht habe?â
Er lĂ€chelte und antwortete: âBei dem, was du mir gestern alles erzĂ€hlt hast, mĂŒsstest du einen erheblichen Teil deines Lebens damit verbracht haben,
dich auf dieses GesprÀch vorzubereiten. Trotzdem glaube ich nicht, dass du und der andere Benjamin ein und dieselbe Person seid.
Ich kann dir nicht sagen, wie es funktioniert, aber ich vermute, dass ihr dieselben Erinnerungen teilt.
Dein Verhalten â und das meine ich nicht abwertend, bitte nicht falsch verstehen â ist nicht das eines Erwachsenen.
Du verhĂ€ltst dich im GroĂen und Ganzen so, wie sich ein kleiner Junge verhalten sollte.
Vielleicht ein klein wenig cleverer, was deinen Erinnerungen geschuldet ist,
aber du scheinst viel mehr zu wissen, als es fĂŒr ein Kind in deinem Alter ĂŒblich ist.â
Es klopfte an der TĂŒr. âDas sollte Katja sein. Wir machen eine kleine Pause,
damit du dich stÀrken kannst, und der deutlichen Ausbeulung deiner Hose nach zu urteilen,
ist auch eine frische Windel fĂ€llig.â Mit diesen Worten erhob er sich und ging zur TĂŒr.
Auch hier kann ich nur sagen Feedback ist erwĂŒnscht, es erhöht die Motivation eines Schreibers ungemein.
Fortsetzung folgtâŠ
Autor: Julius (eingesandt via E-Mail)
Diese Geschichte darf nicht kopiert werden.
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Danke das Du den richtigen dritten Teil so zĂŒgig wie es möglich war nachgereicht hast. Das lĂ€sst keine LeselĂŒcke bei mir und den anderen. Freu mich auf die anderen AbsĂ€tze die ja schon verfĂŒgbar sind.
Super 1++++++