Zwischen Gestern und Morgen (4)
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Feedback ist weiterhin erwünscht und neben der Freude an der eigenen Geschichte die größte Motivation.
Und weiter geht es mit dem kleinen Abenteuer.
Es klopfte an der Tür. „Das sollte Katja sein. Wir machen eine kleine Pause, damit du dich stärken kannst, und der deutlichen Ausbeulung deiner Hose nach zu urteilen, ist auch eine frische Windel fällig.“ Mit diesen Worten erhob er sich und ging zur Tür.
Auch hier kann ich nur sagen Feedback ist erwünscht, es erhöht die Motivation eines Schreibers ungemein. Fortsetzung folgt…
Katja betrat das Zimmer mit einem Korb.
„Die Putzfrau ist gerade in deinem Zimmer zugange, da habe ich mir gedacht, es könnte ja auch mal der Berg zum Propheten kommen.“
Sie stellte den Korb vor mich. Darin waren eine Thermoskanne, vermutlich mit Tee, eine Tupperdose – verwenden die sowas überhaupt im Krankenhaus? – und alles, was für einen Windelwechsel benötigt wird. Sogar eine Ersatzhose lag im Korb.
„Komm am besten erstmal mit ins Badezimmer, deine Ersatzhosen gehen uns nämlich langsam aus“, sagte Katja gut gelaunt zu mir.
Im Badezimmer ging alles ganz schnell: Windel ab, kurze Reinigung mit Feuchttüchern, Frische Windel dran und die Hose wieder hoch. Sie fragte gar nicht, ob ich auf die Toilette möchte. Aber, wenn ich ehrlich bin, will ich das auch gar nicht. So, wie es jetzt ist, gefällt es mir ganz gut.
„Was ist in der Dose?“ fragte ich neugierig, während ich mich an den kleinen Tisch setzte, wo bis eben noch das Lego lag. Thomas muss es weggeräumt haben, als wir im Badezimmer waren.
Die beiden setzten sich neben mich auf den Fußboden.
Katja lachte. „Ich kann doch nicht ohne etwas zu essen hier auftauchen!“
Als sie die Dose öffnete, grinste mich ein großes Stück Erdbeerkuchen an.
„Aber das ist nur eins“, stellte ich etwas enttäuscht fest.
Mit irritiertem Blick schauten mich sowohl Katja als auch Thomas an.
„Du willst uns doch nicht erzählen, dass du davon nicht satt wirst. Es gibt doch auch bald Abendessen“, fragte Katja.
Mit gesenktem Blick meinte ich, immer noch etwas betrübt: „So meine ich das doch nicht. Was ist mit euch? Ich kann doch nicht immer alles alleine essen. Können wir nicht zusammen essen? Das fände ich viel schöner.“
Thomas lachte, und Katja streckte ihre Arme nach mir aus, die ich gerne annahm.
„Mensch, Benni, so habe ich das noch gar nicht gesehen.“
In diesem Moment wollte ich am liebsten innehalten. Mir wurde bewusst, wie sehr ich die Nähe und Geborgenheit vermisst hatte. Gefühlt war ich aber nicht der Einzige, der von seinen Gefühlen überrascht wurde.
Thomas beobachtete die Szene nachdenklich, sagte aber vorerst nichts.
„Was hältst du davon, wenn ich kurz nach unten gehe und schaue, ob ich etwas für Thomas und mich bekomme?“ fragte Katja, nachdem sie die Umarmung gelöst hatte.
„Ja, das wäre toll“, sagte ich, auch wenn ich dafür wieder aus ihrem Schoß aufstehen musste.
An Thomas gewandt fragte Katja: „In der Kanne ist Kakao, der sollte problemlos für uns drei reichen. Soll ich dir trotzdem lieber einen Kaffee mitbringen?“
In der Kanne war Kakao? Und ich muss ihn teilen? Hoffentlich trinkt Thomas Kaffee, dachte ich mir, nicht ganz uneigennützig.
„Wenn ich die Wahl habe und Benjamin bereit ist zu teilen, nehme ich natürlich den Kakao. Ich verstehe die Frage nicht!“ Jetzt mussten wir alle lachen.
Die beiden schauten mich erwartungsvoll an. Wie könnte ich da nein sagen? Ich konnte das ja zu 100 Prozent nachvollziehen. „Ja, klar teile ich.“
Damit verließ Katja noch einmal das Zimmer.
„Du scheinst Katja zu mögen, oder?“ fragte mich Thomas direkt, als wir allein waren.
Ich wurde rot im Gesicht, nickte aber.
„Das ist völlig in Ordnung. Ich finde das gut und denke, dass du eine Bezugsperson brauchst, auf die du dich verlassen kannst. Wäre es okay für dich, wenn ich das bei Gelegenheit mal mit Katja unter vier Augen bespreche?“
„Alles?“ fragte ich erschrocken.
Verständnisvoll antwortete Thomas: „So habe ich das nicht gemeint. Ich denke nur, dass dir eine feste Bezugsperson guttun würde, und ihr beide scheint einen guten Draht zueinander zu haben.“
„Aber was, wenn sie das nicht möchte?“ fragte ich besorgt.
„Im Grunde hast du recht, die Möglichkeit besteht immer. Aber ich kenne Katja schon viele Jahre, sie und meine Frau sind seit dem Kindergarten befreundet. Es müsste schon viel schiefgehen, damit ich mich in diesem Fall irre.“
Immer noch nicht ganz überzeugt und mit einem mulmigen Gefühl im Bauch, stimmte ich nickend zu.
Als Katja das Zimmer mit zwei Tassen und einer weiteren Dose betrat, schwiegen wir beide.
„Ist was passiert? Ihr seid so ruhig“, fragte Katja.
Thomas schaute ihr in die Augen und antwortete mit einer Gegenfrage: „Kommst du heute Abend nach deiner Schicht nochmal zu mir?“
„Klar, kann ich machen. Habe ich etwas falsch gemacht?“ fragte Katja irritiert.
Thomas lächelte. „Nein, ganz im Gegenteil.“
Noch immer mit einem Fragezeichen im Gesicht wandte sich Katja an mich: „Wollen wir jetzt erstmal was essen, nicht dass du hier noch verhungerst?“ Damit überspielte sie die Situation gekonnt.
Erleichtert über den Themenwechsel sagte ich: „Oh ja!“ und begann, mein Stück Erdbeerkuchen zu essen. Nach der zweiten Tasse Kakao – wovon gefühlt eine schon wieder den Weg nach draußen gefunden hatte – beobachtete ich nun die beiden anderen beim Essen. Esse ich wirklich so schnell, oder sind die beiden einfach nur so langsam?
Nach einer gefühlten Ewigkeit waren sie endlich fertig. „Hilfst du mir, alles wieder in den Korb zu räumen?“ wandte sich Katja an mich.
Das war nun wirklich keine schwierige Aufgabe, aber es fühlte sich gut an, auch mal helfen zu können.
Ich hätte sie gerne noch einmal umarmt, als sie das Zimmer mit dem Korb verließ und sich mit den Worten: „Bis gleich, ich hole dich dann wieder ab“, verabschiedete.
Diesmal war ich es, der sich direkt an Thomas wandte: „Du hast doch gesagt, dass du glaubst, ich und der andere Benjamin sind nicht dieselben Personen, oder?“
„Ja, denkst du, es ist anders?“
Umständlich hob ich meinen Pullover an und schob meine Hose samt Windel leicht nach unten. „Siehst du das Muttermal? Ich bin mir sicher, dass ich das in meinen Erinnerungen auch habe, nur dass es da viel größer ist und die Haut viel älter aussieht.“
Thomas schien kurz zu überlegen. „Ihr könntet Geschwister sein? Oder auch dein Vater.“ Er war wieder in Gedanken und fuhr fort: „Ich muss gestehen, dass ich beides nicht wirklich glaube. Es ist wirklich ein Rätsel, an dem ich mir im Moment die Zähne ausbeiße.“
Er erhob sich und streckte seine Beine. „Was hältst du davon, wenn wir gemeinsam am Computer nachschauen, was wir über den anderen Benjamin herausfinden? Wenn deine Erinnerungen bis 2017 reichen, besteht die Möglichkeit, dass er in den sozialen Medien ein Profil hat.“
„Ja, einen ähnlichen Gedanken hatte ich auch schon.“
Wir gingen an seinen PC und riefen anhand meiner Angaben diverse Accounts auf: E-Mail, Facebook – ja, sowas gab es in dieser Generation noch – und einige Foren, in denen ich aktiv war. Mit Ausnahme der Windelthematik davon erzählte ich ihm nichts. Auf meinen Online-Banking-Account hatten wir keinen Zugriff; sämtliche Versuche, den Account zu entsperren, scheiterten. Meine letzten Aktivitäten datierten auf den 20. November 2017. Es ging um einen Auftrag für ein Steuerbüro, da ich freiberuflicher Steuerfachangestellter war. Es gab ein paar Anfragen, aber nicht mehr.
Damit hatte ich zumindest für mich die Gewissheit, dass ich mir das alles nicht einbilde.
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„Wie geht es weiter?” fragte ich.
„Die Einträge in deinem E-Mail-Account decken sich mit deinen Aussagen, was dafür spricht, dass in deinen Erzählungen viele Fakten stecken. Ich habe dir aber schon vorher geglaubt. Der Benjamin, an den du dich erinnerst, war auf jeden Fall seit Ende 2017 nicht mehr aktiv.
Jetzt könnte man sich an die Polizei wenden. Es müsste ja eine Vermisstenanzeige zu diesem Benjamin geben,” antwortete Thomas, während er den Computer ausschaltete.
„Muss es so eine Anzeige geben?” fragte ich zweifelnd, da ich nicht wüsste, wer nach mir suchen sollte.
„Das ist in der Regel so. Irgendwer wird diesen Benjamin ja wohl vermissen, meinst du nicht?”
Noch immer zweifelnd entgegnete ich: „Keine Ahnung. Ich habe keine wirklichen Erinnerungen an gute Freunde, die nach mir suchen würden. Bestenfalls ein paar Bekannte, aber niemandem, dem ich sowas zutrauen würde.“
Thomas sah mich an und schien zu verstehen, worauf ich hinaus wollte.
„Versuch bitte, das alles nicht so auf dich zu beziehen. Ich bin mir wirklich sicher, dass dieser Benjamin und der Benjamin hier neben mir nicht dieselbe Person sind,” sagte er aufmunternd lächelnd. „Und wenn dieser Benjamin hier neben mir einfach verschwinden würde, fallen mir auf Anhieb einige Leute ein, die Himmel und Hölle in Bewegung setzen würden, um ihn wiederzufinden.“
Er stand auf und schaute mich auffordernd an.
„Lass mich dich runter zu Katja bringen. Ich denke, für heute sind wir durch.”
Jetzt, wo er es sagte, stellte ich fest, dass es schon wieder dunkel draußen war und mein Magen sich auch wieder bemerkbar machte.
„Ja, ich komme,” sagte ich, und wir gingen zur Tür.
Thomas löschte das Licht in seinem Zimmer.
Auf dem Weg nach unten kam uns Katja entgegen.
„Da seid ihr ja schon, ich war gerade auf dem Weg zu euch.“
Thomas übernahm die Rolle des Sprechers:
„Ja, wir sind für heute durch. Nicht nur Benjamin braucht eine Pause, um das heutige Geschehen zu verarbeiten. Auch ich habe jetzt mit Benjamins Fall genügend Fragen für mindestens die nächsten zwei Jahre. Auf jeden Fall ist unser kleiner Mann etwas Besonderes. Aber das hast du bestimmt schon vor mir gewusst,” wandte er sich an Katja, die mich anlächelte und mir durch die Haare wuschelte.
„Ja, das habe ich ziemlich schnell gemerkt.”
Wieder wurde ich rot. Ich würde mich jetzt gerne an Katja kuscheln, aber ich traue mich nicht so recht.
Vor meinem Zimmer angekommen, verabschiedete sich Thomas von mir:
„Ich denke, morgen machen wir mal eine Pause. Schlaf gut, und denk daran, was ich dir gesagt habe. Hier sind viele Leute, die jederzeit für dich da sind.”
An Katja gewandt fragte er:
„Bist du heute mit dem Auto oder zu Fuß unterwegs?”
„Zu Fuß. Du weißt doch, dass ich, wenn das Wetter mitspielt, lieber laufe. Gerade nach Feierabend ist es eine schöne Möglichkeit, den Tag beim Nach-Hause-Spazieren Revue passieren zu lassen.”
„Sehr gut, dann würde ich dich heute bis nach Hause begleiten. Wenn das okay für dich ist?”
Katja nickte. „Klar, können wir so machen.”
Danach verschwanden wir in meinem Zimmer. Andrea war auch schon da und begrüßte mich mit einem Lächeln.
„Hattest du einen schönen Tag, Benjamin?”
Nickend bestätigte ich: „Ja, heute war ein schöner Tag.”
„Das freut mich,” sagte Andrea, und auch Katja wuschelte mir erneut durch die Haare.
„So, jetzt aber ab ins Badezimmer, damit du endlich ins Bett kommst,” sagte Katja, während sie die sich gerade bildenden Fragezeichen in meinem Gesicht bewunderte.
„Was hast du denn?” fragte sie leicht irritiert.
„Und was ist mit dem Abendessen?” fragte ich besorgt.
Ich sah eine Erleuchtung und Heiterkeit in ihrem Blick.
„Das haben wir doch nicht vergessen! Es steht schon bereit und wartet auf einen kleinen Nimmersatt. Und ab morgen wollen wir es so einrichten, dass wir gemeinsam in der Cafeteria essen, mit dem Frühstück fangen wir an.”
Stimmt, das war ja mein eigener Wunsch. Auch wenn ich mir das etwas privater vorgestellt hatte. So, in meinem Zimmer zum Beispiel. In der Cafeteria sind bestimmt viele Leute. Jetzt wurde mir ein wenig mulmig, aber Katja und Andrea lassen mich da bestimmt nicht allein, versuchte ich mich zu beruhigen.
„So, aber jetzt ab ins Badezimmer,” sagte Andrea lachend und schob mich sanft hinein.
„Schlaf gut, Benjamin, wir sehen uns morgen früh,” verabschiedete sich Katja am Durchgang zum Badezimmer.
Ich war schon ein wenig traurig, als sie das Zimmer verließ. Ich hatte Katja echt lieb gewonnen. Nicht, dass ich Andrea nicht auch mochte, sie war auch ganz lieb zu mir, und ich war froh, dass sie für mich da war. Aber mit Katja war es irgendwie anders. Ich konnte es nicht genau beschreiben, aber es fühlte sich an, als wäre ich in ihrer Gegenwart einen halben Kopf größer.
Im Badezimmer lief es trotz Routine heute ein wenig anders. Die Windel, die ich für die Nacht bekam, war diesmal deutlich dicker, und Andrea hatte mir einen flauschigen Einteiler mit einem Teddy-Motiv mitgebracht.
„Der ist fast noch ein wenig zu groß für dich, aber der hält dich auf jeden Fall schön warm, auch wenn du die Bettdecke mal im Schlaf runterstrampelst,” kommentierte sie.
Danach gingen wir zurück ins Zimmer, und ich kletterte auf mein Bett, was mit der etwas dickeren Windel gar nicht so einfach war. Aber ich schaffte es, schließlich musste ich ja zu meinem Abendessen kommen, das schon auf dem Beistelltisch bereitstand.
„Ich habe dir dein Essen nicht ausgesucht, möchte ich nur vorweg erwähnen. Ich wünsche dir einen guten Appetit,” sagte Andrea, bevor ich mich dem vorletzten und aus meiner Sicht jetzt wichtigsten Tagespunkt widmete.
Heute gab es zwei Brote mit Kräuterquark und eine schon geschnittene Birne. So gesund – das war nicht ganz mein Fall, aber ich musste feststellen, dass der Quark echt gut schmeckte, und die Birne hatte keine Chance, alt zu werden.
„Möchtest du heute das Tablett draußen auf den Wagen bringen?” fragte Andrea.
Die haben sich doch Heute bestimmt abgesprochen. Ich nickte und hangelte mich vom Bett.
Als ich mit dem Tablett an der Tür stand, schaute ich zu Andrea, die noch auf dem Stuhl saß.
„Kannst du bitte mitkommen?”
Andrea sah, dass ich plötzlich unsicher war, und lächelte verständnisvoll.
„Klar, du kleiner Teddybär,” sagte sie und begleitete mich auf den Flur.
Auf dem Weg zum Geschirrwagen begegnete uns Jenny.
„Du bist heute aber schick! Da möchte man dich ja gleich in den Arm nehmen und knuddeln,” sagte sie.
Das war mir dann doch ein bisschen peinlich, also brachte ich das Tablett schnell weg, bevor sie mich wirklich schnappen konnte.
Zurück im Bett wartete ein großer, sehr kuscheliger Hund auf mich. Mit großen Augen bestaunte ich das Ungetüm und schloss es sofort in mein Herz.
„Der ist ja fast so groß wie ich!” rief ich begeistert.
„Schön, dass er dir gefällt! Mein Großer hat ihn dir aus seinem Fundus gespendet. In seiner WG hat er keinen Platz mehr, und mein Jüngster hat schon so viele Kuscheltiere, dass er selbst kaum noch Platz im Bett hat. Er soll dich beschützen, gerade in der Nacht.”
„Danke,” sagte ich mit Freudentränen in den Augen und kuschelte sofort mit „Hundi”, wie ich ihn in Gedanken taufte.
Andrea deckte mich zu, und das „Gute Nacht, Kleiner” nahm ich gar nicht mehr richtig wahr.
___________
„Aufstehen, Schlafmütze!“ Langsam löste ich mich aus dem Fell von Hundi.
Zu meiner Verwunderung war Andrea noch im Zimmer und legte gerade ein paar Sachen für den morgendlichen Ausflug in das Badezimmer bereit.
„wo ist denn Katja?“ fragte ich leicht besorgt.
„Die treffen wir heute erst in der Cafeteria, sie kommt ein klein wenig später. Ich habe gerade noch mit ihr telefoniert.“
Man konnte mir die Erleichterung bestimmt ansehen, aber es brachte mich zum Nachdenken.
Während der morgendlichen Routine war ich heute, glaube ich, keine große Hilfe. Ich war ganz in meine Gedanken vertieft.
Vor wenigen Tagen war ich noch fest entschlossen, auf eigene Faust herauszufinden, was wirklich passiert ist. Und gestern habe ich mich nicht einmal getraut, das Tablett mit dem schmutzigen Geschirr auf den Flur zu bringen. Wer ist für mich da, wenn die beiden mal frei haben? Sie können ja nicht immer Dienst haben. Und überhaupt, wie lange kann ich überhaupt noch hierbleiben? Frau Landgraf hat etwas von „einigen Tagen“ gesagt. Eine innere Unruhe machte sich in mir breit.
„Hallo, Erde an Benjamin, bist du noch da? Mach doch bitte mal den Mund auf, sonst kann ich dir gar nicht die Zähne putzen. Hast du heute nicht gut geschlafen? Tut dir etwas weh?“ fragte Andrea jetzt langsam besorgt, während sie mich im Alleingang geduscht, mit einer frischen Windel versorgt und angezogen hatte.
Ich konnte nicht einmal sagen, was ich wirklich an Unterwäsche trage. Offensichtlich habe ich wieder eine blaue Jeans-Latzhose und einen dunklen Pullover an, dessen Motiv ich nicht erkennen kann, da es vom Hosenlatz verdeckt wird.
Ich öffnete meinen Mund und nahm Andrea zaghaft die Zahnbürste aus der Hand.
„Da ist ja doch jemand zu Hause. Verrätst du mir, was dich beschäftigt?“
Ich begann mir die Zähne zu putzen, während Andrea mich aufmerksam beobachtete.
Ein Speichel-Zahnpasta-Gemisch tropfte mir auf den Hosenlatz.
Nachdem ich mir den Mund mit etwas Wasser ausgespült hatte, wischte Andrea mir den Hosenlatz mit einem feuchten Waschlappen sauber, ein feuchter Fleck blieb zurück.
„War wohl nicht meine beste Idee, dich erst nach dem Anziehen die Zähne putzen zu lassen,“ kommentierte Andrea.
Auf dem Weg zurück ins Zimmer bahnten sich Tränen ihren Weg. Mich überkamen Ängste. Ich habe Angst, allein gelassen zu werden.
Als Andrea im Zimmer ankam und ich nicht, wie erwartet, direkt hinter ihr stand, wanderte ihr Blick suchend zu mir. Ich stand wie angewurzelt noch im Durchgang zum Badezimmer.
„Benni, was ist denn heute los mit dir?“ Sie schien sofort in den besorgten Prüfmodus zu schalten. Sie legte ihre Hand auf meine Stirn. „Wie Fieber fühlt sich das nicht an.“ Sie schnupperte leicht und schüttelte den Kopf.
Hat sie wirklich gedacht, ich könnte die Hosen voll haben?
Sie nahm mich hoch und setzte sich mit mir auf einen Stuhl, sodass ich seitlich auf ihrem Schoß saß
.
„Benni, ich kann dir nur helfen, wenn du mir erzählst, was dich bedrückt,“ sagte sie einfühlsam.
Mit weinerlicher Stimme versuchte ich, meine Sorgen mitzuteilen: „Ich habe Angst, dass ich von euch wegmuss, dass ich allein bin. Was ist, wenn ich die nicht mag, wo ich hinmuss? Oder die mich nicht mögen? Ich will nicht weg von euch!“
Andrea verstand augenscheinlich sehr schnell, was ich meinte, und ihre Umarmung wurde fester. „Egal, was passiert oder wo du irgendwann hinkommst, ich kann mir gar nicht vorstellen, wie man dich nicht mögen kann!“ Ich hatte das Gefühl, dass sie selbst nicht ganz überzeugt war, ihr Blick wirkte jedenfalls nachdenklich.
Nach einigen Minuten, in denen ich einfach nur auf ihrem Schoß in ihrer Umarmung saß und mich langsam wieder fing, betrat Katja das Zimmer.
Mein Herz begann ein wenig schneller zu schlagen. Am liebsten wäre ich aufgesprungen und zu ihr gerannt.
Katja sah müde aus, aber sie schien sich zu freuen, uns zu sehen.
„Da seid ihr also! Wollten wir uns nicht in der Cafeteria treffen?“ In diesem Moment bemerkte sie Andreas nachdenklichen Blick und mein Gesicht, das vermutlich ebenfalls Bände sprach.
Katjas Gesichtszüge wechselten von müde-erfreut zu müde-besorgt. „Was ist passiert?“ Sie stellte ihren Rucksack, den ich heute zum ersten Mal bei ihr sah, ab und kam auf uns zu.
Andrea sah sie an und schien zu versuchen, ihre Gedanken beiseite zu wischen. „Du siehst aber auch ziemlich müde aus. ‚Passiert‘ würde ich nicht unbedingt sagen, aber Benjamin macht sich Sorgen, wie es mit ihm weitergeht. Leider nicht ganz unberechtigt, wie ich feststellen muss.“
Ich glaube, der letzte Teil ihres Satzes ist ihr herausgerutscht, ohne dass sie darüber nachgedacht hat.
Das bestätigte nur meine Annahme, dass sie selbst nicht so sicher war, dass alles so gut für mich laufen würde.
Katja hockte sich vor uns, sodass sie mit mir auf Augenhöhe war. „Es wird bestimmt alles gut. Jetzt bist du erstmal hier, und ich lasse nicht zu, dass du irgendwohin kommst, wo du dich nicht wohlfühlst. Und auf keinen Fall lassen wir dich allein! Solltest du zu einer Pflegefamilie oder – was ich wirklich nicht hoffe – in ein Heim kommen, werde ich dich so oft besuchen, wie ich kann. Ob du es glaubst oder nicht, du hast in der kurzen Zeit, in der wir dich begleiten, einen Platz in meinem Herzen eingenommen!“ Mit diesen Worten streckte sie ihre Arme in meine Richtung aus.
Ich zögerte nicht und wechselte von Andreas in Katjas Arme.
Das Gefühl lässt sich nur schwer in Worte fassen: Freude, Verlustangst, Geborgenheit, Unruhe, Liebe? Und das alles auf einmal. Tränen schossen unkontrolliert aus mir heraus, ich begann zu zittern – ich war einfach völlig überfordert mit meinen Emotionen. Und trotzdem war es irgendwie schön. Klingt verrückt? Ist es auch!
„Sch, sch, es ist alles gut, Benni, wir schaffen das,“ sagte Katja beruhigend. Ich spürte, wie es in meinem Schritt ganz warm wurde, aber das war mir völlig egal – ich wollte, dass die Umarmung nie wieder aufhört.
Beide standen auf, Katja behielt mich zu meinem Erstaunen im Arm, und wir bewegten uns in Richtung Tür. Ich fand immer noch, dass dieser Moment nie vergehen sollte. Meine Arme umschlangen Katjas Hals fester, und ich legte meinen Kopf auf ihre Schulter. Dieser südliche vertraute Duft, den ich schon beim ersten Mal als ich im Krankenhaus erwachte wahrgenommen hatte, war wieder präsent. Ich konnte ihn bis eben nicht zuordnen, aber er war ständig da, mal mehr, mal weniger – doch jetzt ganz stark. Ich konnte sogar Katjas Herzschlag spüren. Es war so beruhigend, dass ich am liebsten die Augen geschlossen hätte, um einfach einzuschlafen.
Katja und Andrea unterhielten sich, während wir auf dem Weg zur Cafeteria waren. Aber ich war so damit beschäftigt, meine Eindrücke und Emotionen zu verarbeiten, dass ich nicht sagen könnte, worüber sie gesprochen haben.
Leider musste auch dieser Moment einmal enden, und so geschah es, als wir uns einem Tisch am Fenster näherten. Katja setzte mich auf die durchgehende Bank am Fenster und sich direkt neben mich.
„Wollen wir zusammen ans Buffet, oder soll Andrea uns etwas holen?“
Auch wenn ich meinen Hunger nicht verleugnen konnte, wollte ich gerade viel lieber weiter mit Katja kuscheln. Also lehnte ich mich an sie, und sie legte ihren Arm um mich
.
„Das soll dann wohl heißen, du möchtest lieber sitzen bleiben?“
„Ja, mit dir,“ sagte ich leise.
Sie streichelte mir über den Arm. „Ja, das dachte ich mir.“ Sie wandte sich dann an Andrea: „Wärst du so lieb? Ich glaube, eine Schüssel Schokoladen-Cornflakes und ein warmer Kakao sind das Mindeste, um seine Aufmerksamkeit wieder aufs Hier und Jetzt zu lenken.“
„Das bekommen wir hin, denke ich. Und was möchtest du?“
„Kaffee und irgendetwas Herzhaftes, ich kämpfe immer noch mit der Müdigkeit.“
„Das kann ich mir gut vorstellen.“ Damit lief Andrea Richtung Buffet.
Andrea musste zweimal laufen, um alles an unseren Tisch zu bringen. Es roch nach Kaffee, aber ich hatte nur Augen für meine Cornflakes, wie Katja es prophezeit hatte. Während ich damit beschäftigt war, meine Schüssel zu leeren – was diesmal nicht so schnell ging wie sonst –, unterhielten sich Andrea und Katja.
„Und du hast gestern bis heute Morgen mit Thomas und seiner Frau bei dir gesessen?“
„Ja, Anja und ich kennen uns schon sehr lange. Durch sie, beziehungsweise durch Thomas, bin ich überhaupt erst hier gelandet.“
„Und habe ich das richtig verstanden, Thomas kam mit dieser Idee auf dich zu?“ Andrea schaute kurz zu mir und dann schnell wieder zu Katja.
„Ja, und nein. Ich habe dir nie davon erzählt, aber erinnerst du dich noch an Alex?“
„Ja, aber das ist doch schon vier Jahre her. Ich dachte, das Thema sei längst abgeschlossen?“
„Das meine ich auch nicht. Wir hatten damals große Pläne. Auch wenn aus der Beziehung nichts wurde, konnte ich mich von den Plänen noch nicht so richtig trennen. In dem Zusammenhang habe ich mich intensiv mit dem Thema beschäftigt.“
„Wie intensiv?“
„So intensiv, dass es am Ende nur noch an meiner Unterschrift hing.“
Andrea schaute Katja mit großen Augen an. „Und woran ist es dann gescheitert?“
Katja zuckte unschlüssig mit den Schultern: „An vielen Gründen – finanziellen, der Verantwortung und einigen mehr. Aber ich möchte das hier…“ Sie schaute mich an, und ihre Gesichtszüge wurden weicher. „… nicht weiter vertiefen.“
Andrea verstand. „Ich würde dich unterstützen!“
„Danke. Es kann sein, dass ich darauf zurückkomme. Thomas und Anja haben mir das auch angeboten.“ Katja wandte sich mir zu.
„Geht es dir jetzt ein wenig besser?“ Immer noch mit den Cornflakes beschäftigt, antwortete ich: „Ja, es geht wieder. Was machen wir heute?“
Mit einem Lächeln sagte Katja: „So gefällst du mir schon besser. Ich würde sagen, wir gehen kurz zurück aufs Zimmer, schauen, ob du noch einen kleinen Boxenstopp brauchst, und dann könnten wir auf den Spielplatz gehen. Der Verband ist ab, also könntest du heute bestimmt besser spielen. Außerdem ist das Wetter super.“
Meine Freude über diesen Vorschlag konnte ich nicht verbergen. „Cool! Kann ich dann auch auf das Klettergerüst?“
Lachend antwortete Katja: „Du sollst sogar! Ich will, dass du dich richtig auspowerst, damit du nachher einen vernünftigen Mittagsschlaf machst. Im besten Fall so lange, dass Frau Landgraf von selbst merkt, dass sie entweder viel Geduld braucht, um mit dir ein paar belanglose Worte zu wechseln, oder einfach darauf vertraut, dass wir ihr alles Wichtige über deinen Gemütszustand mitteilen, was sie wissen muss.“
Plötzlich klang der Mittagsschlaf gar nicht mehr so schlimm.
„Komm, hilf mir mal, die Tabletts zu tragen“, sagte Andrea zu mir.
Ich sprang auf und freute mich, diesmal wirklich helfen zu können.
Nachdem das erledigt war, verabschiedete sich Andrea mit den Worten: „Bis heute Abend! Und wenn du nochmal Redebedarf hast, kannst du mich später gerne anrufen, wenn unser kleiner Teddybär schläft. Ich sollte ab 12:30 Uhr wieder wach sein.“
Katja und ich gingen ins Badezimmer. Bevor ich eine frische Windel bekam, nutzte ich die Gelegenheit, um ein großes Geschäft zu erledigen. Ich wollte auf jeden Fall vermeiden, dass das nochmal in der Windel landet.
Katja hielt mir eine Matschhose hin: „Ich glaube, die eignet sich hervorragend für einen Ausflug auf den Spielplatz.“
Sie nahm den Rucksack, den sie vorhin abgestellt hatte, und wir gingen Hand in Hand nach draußen zum Spielplatz.
Dort angekommen, steuerten wir eine Bank an, auf der eine Mutter gerade mit ihrem Sohn sprach. „Hallo, ist hier noch frei?“ fragte Katja.
„Klar, hier ist genug Platz für vier.“ Der Platz wurde allerdings nicht benötigt, denn ich stürmte sofort in Richtung Klettergerüst, nachdem Katja mir mit einem Nicken das „Go“ gegeben hatte.
Aus der Ferne sah ich, dass sich Katja angeregt mit der anderen Mutter unterhielt. Ab und zu trafen sich unsere Blicke, während ich sicherstellte, dass sie noch da war und mich nicht alleine ließ. Eigentlich unnötig, aber sicher ist sicher.
Irgendwann begann ich, mit anderen Kindern zu spielen, was in einem wilden Fangspiel im angrenzenden Park endete. Ich war gerade dran mit Fangen, als ein Jogger, der für das Wetter viel zu warm angezogen war – mit Schal und tief ins Gesicht gezogener Mütze –, mich anrempelte. Es war mehr ein Stoßen als ein Streifen, obwohl er genug Platz gehabt hätte, um auszuweichen. Ein kurzer Stich durchfuhr mich, aber der Jogger rannte weiter, als wäre nichts gewesen, ohne sich zu entschuldigen. Blödmann, dachte ich mir, als plötzlich ein Brennen von dem Stich ausging.
Ich begriff nicht, was passiert war. Auf einmal wurde mir schwindelig und übel. Ich sah an mir herunter, aber da war nichts zu sehen. Doch der Schmerz wurde schlimmer, es fühlte sich heiß an. Hilfe suchend, sah ich mich nach Katja um. Ich lief noch einige Schritte auf sie zu, aber als sie mich erblickte, verließen mich meine Kräfte. Ich fiel einfach nach vorne, ohne die Möglichkeit, den Sturz abzufedern.
Gefühlt verging eine Ewigkeit. Ich hörte Katja rufen, konnte mich aber nicht mehr bewegen und nur noch schwer atmen. Plötzlich hatte ich ein Déjà-vu. Dieses Gefühl, ich hatte es schon einmal erlebt…
Auch hier kann ich nur sagen Feedback ist erwünscht, es erhöht die Motivation eines Schreibers ungemein.
Fortsetzung folgt…
Autor: michaneo (eingesandt via E-Mail)
Diese Geschichte darf nicht kopiert werden.
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Fehlt da nicht ein Kapitel?
genau das Gefühl hab ich auch. Wo kommt den dieser Thomas plötzlich her?
Ach Julius, deine Geschichte ist gut erzählt und gut lesbar. Leider ist Kapitel 3 die 100%-ige Wiederholung des Kapitels 2 und Kapitel 5 ist identisch mit Kapitel 4. Das sieht mir nach einem verwirrten Autor oder einem Computer-Bedienfehler aus.
Bitte berichtige doch diese Fehler, denn ich würde deine Geschichte gern komplett lesen wollen.
Gruß Olaf
Beim eintragen des Autors ist auch etwas schiefgelaufen, da steckte wohl der Wurm drin. Teil 3 ist jetzt so Online wie es seinen Soll!
Der Autor ist michaneo, schön das es dir Gefällt!
Das ist dann nicht Teil 4 sondern Teil 3 da Teil 2 ja doppelt geliebt wurde
Ich bin überwältigt 😍
Das ist wieder eine absolut Fesselnde Geschichte (Geschichtsreihe) und Zack wieder eine unerwartete Wendung. Ich bin gespannt wie es weiter geht.