Zwischen Gestern und Morgen (7)
Windelgeschichten.org präsenriert: Zwischen Gestern und Morgen (7)
Ihr Kennt das Spiel. 🙂
Feedback ist weiterhin erwünscht und neben der Freude an der eigenen Geschichte die größte Motivation.
Und weiter geht es mit dem kleinen Abenteuer.
Das sanfte Geräusch einer sich schließenden Tür weckte mich.
Ich lag mit dem Kopf auf Katjas Schoß, das Gesicht in Richtung ihrer Taille. Sie streichelte mir durchs Haar. „Hallo Benjamin, gut geschlafen?” sagte sie liebevoll.
Ich wollte antworten, aber das war gar nicht so einfach – ich hatte meinen Daumen im Mund.
Sie streichelte mir immer noch durchs Haar.
„Ist schon gut, hab ich als Kind auch ganz lange gemacht“, sagte sie schmunzelnd.
Ich nahm den Daumen aus dem Mund und antwortete:
„Ja? Wann gibt es etwas zu essen?“
Erheitert sagte sie: „Jetzt, ich habe nur auf dich gewartet. Es gibt Pizza. Magst du Pizza?“
Was für eine Frage – wer mag keine Pizza?
Ich nickte und richtete mich auf. Erstmal erkundete ich den Raum, in dem wir uns befanden. Er schien relativ groß zu sein. Gegenüber war eine kleine Lampe an der Wand angebracht, die den Raum in ein sanftes Licht tauchte. Die große Deckenleuchte war ausgeschaltet. Ein langer Tisch befand sich in der Mitte des Raumes, mit Stühlen auf beiden Seiten, aber nicht an den Stirnseiten.
Ein riesiger Fernseher stand an der rechten Stirnseite, mit etwas Abstand zum Tisch. Als ich mich weiter umsah, erblickte ich zwei weiße Pappschachteln auf dem Tisch – jegliches Interesse am restlichen Raum erlosch.
Ich hatte Hunger, und ein verführerischer Geruch drang in meine Nase. Ich sprang auf und wollte gerade zum Tisch laufen, als Katja mich am Hosenbund festhielt.
„Immer langsam. Ich möchte nur schnell mal schauen, ob wir wechseln müssen. Du hast eine ganze Weile geschlafen“, sagte sie, während sie mit dem anderen Arm um mich griff und mich zurückzog.
Das kitzelte ein wenig, und ich musste lachen.
„Na, du bist mir ja einer“, sagte sie und klopfte mir leicht auf den Hintern. „Ich denke, die Mahlzeit wird die Windel noch verkraften.“
Katja schaltete das große Licht ein, und wir setzten uns an den Tisch. Die Salamipizza hatte keine Chance. Katja ermahnte mich vergeblich beim Essen: „Mach langsam, sonst wird dir noch schlecht.“
Danach fühlte ich mich mehr als satt.
Während Katja noch aß – sie hatte noch die halbe Pizza vor sich, und ihre war nicht größer als meine –, schaute ich mich weiter im Raum um.
„Fass aber bitte nichts an, wir müssen erst Hände waschen, und wenn ich mir dich so ansehe, auch dein Gesicht“, schmunzelte sie.
Ich drehte eine Runde durch den Raum, aber abgesehen von einer Kiste mit Mineralwasser und einer kleinen Zimmerpflanze auf einem Schrank gab es nichts, was mein Interesse weckte. Langsam begann ich, mich zu langweilen.
Katja beobachtete mich die ganze Zeit. „Setz dich doch noch mal kurz hin, ich bin gleich fertig.“
Nach weiteren endlosen fünf Minuten – und ja, fünf Minuten können sehr lange sein – stapelte Katja die beiden Pizzakartons aufeinander, nahm mich an die Hand und verließ mit mir das Zimmer.
Vor der Tür befand sich ein Flur mit vielen Türen. Ich hörte, wie sich viele Menschen unterhielten. Es roch unangenehm nach Kaffee.
Wir liefen eine Treppe hinunter und kamen in einen sehr weitläufigen Bereich. Wir steuerten auf einen Tresen zu, von dem gerade eine Polizistin aufstand und in unsere Richtung lief.
Katja sprach sie an: „Entschuldigung, können Sie mir sagen, wo hier das WC ist?” Die Polizistin sah lächelnd zu mir. „Na, wer bist du denn?“ Dann schaute sie zu Katja. „Einfach den Flur hier runter und die letzte Tür rechts“, sagte sie zu Katja, und wieder zu mir gewandt: „Musst wohl die letzten Spuren vom Abendessen beseitigen?“
Katja antwortete für mich: „Ja, das mit dem langsamen und sauberen Essen lernen wir noch, wir haben ja alle mal klein angefangen.“
Die Polizistin gab gut gelaunt zurück: „Und dann werden sie viel zu schnell groß.“
Wir betraten das Badezimmer, und Katja sah sich kurz um. Wirklich groß war es nicht. Katja half mir, mein Gesicht abzuwischen, das Händewaschen schaffte ich selbst.
„Kannst du bitte ganz kurz hier warten? Ich muss auch mal kurz für kleine Mädchen“, sagte sie. Ich schaute sie fragend an. „Aber du bist doch gar nicht klein?“ Katja lachte.
„Das sagt man doch nur so, Benni. Kennst du das nicht? Für kleine Jungs oder kleine Mädchen?“
Ich sah sie immer noch fragend an. „Doch, hab ich schon gehört, glaube ich“, zumindest in meinen Erinnerungen, aber was wollte sie mir damit sagen?
„Na, siehst du. Geht ganz schnell, bleib bitte einfach hier stehen“, antwortete Katja.
Danach ging es zurück, und an der Treppe stieß Thomas zu uns.
„Hallo ihr beiden, habt ihr schon mit Frau Grünwald gesprochen?“ fragte er gleich.
„Nein, Herr Kurz meinte, sie ist noch unterwegs und kommt direkt zu uns, wenn sie da ist. War aber ganz gut so, Benjamin hat die ganze Fahrt und dann noch zwei Stunden hier geschlafen. Jetzt haben wir gegessen. Zum Abschluss mache ich ihn noch mal schnell frisch, dann kann sie gerne kommen.
Hast du die drei sicher untergebracht?“
Thomas erzählte: „Ich denke schon. Meine Schwiegereltern und die drei machen jetzt erstmal Urlaub auf Rügen. Ein alter Studienfreund von mir hat dort oben mehrere Unterkünfte. Ich denke, sie sind weit genug vom Geschehen weg.“
Als Thomas Rügen erwähnte, sah ich einen Strand vor meinem geistigen Auge. Ich war als Jugendlicher wohl dort. Da möchte ich mal wieder hin.
„Hast du es Anja erklären können?“ fragte Katja. „So gut es mir möglich war. Sie weiß jetzt, dass Benjamin in Gefahr ist, wir den Grund aber noch nicht genau kennen und der oder diejenige wohl keine Skrupel hat.“
Als wir das Zimmer betraten, stand eine ältere Frau in ziviler Kleidung am Tisch und räumte diverse Unterlagen aus ihrer Tasche. Sie drehte sich zu uns um.
„Na, das passt doch super. Ich nehme an, Sie sind Frau Hofmeister, Herr Huber, und das wird der kleine Herr Stenzel sein?“
Thomas ergriff das Wort. „Ja, und Sie sind Frau Grünwald, nehme ich an?“
Die Frau war nicht sehr groß, schlank, fast schon hager, aber sie hatte einen wachen Blick, mit dem sie uns genau musterte. Als ihr Blick mich traf, ging sie in die Hocke. „Du darfst mich auch gerne Marion nennen, wenn ich dich Benjamin nennen darf“, sagte sie lächelnd.
Es wirkte auf mich nicht gestellt. Also nickte ich. Eine richtige Antwort hatte ich gerade nicht parat.
Dann wandte sie ihren Blick Katja und Thomas zu. „Ich bin Kriminalhauptkommissarin Grünwald, können wir gleich anfangen?” Katja meldete sich zu Wort: „Können wir noch fünf Minuten bekommen? Ich muss noch eine Kleinigkeit mit Benjamin erledigen.“ Sie nahm Feuchttücher und eine Windel aus der Tasche, die gleich neben der Tür stand. Die Polizistin musterte mich kurz. „Oh, warten Sie, ich gehe kurz vor die Tür. Geben Sie einfach Bescheid, wenn Sie so weit sind.“ Katja sah sie dankbar an. „Danke, das wäre echt super.“
Der Windelwechsel wurde kurzerhand auf der Couch vollzogen. „Das war aber allerhöchste Eisenbahn“, kommentierte Katja den Zustand der vollen Windel, die sie mit einem dumpfen Geräusch in den Mülleimer an der Tür fallen ließ. Anschließend öffnete sie die Tür und bat Frau Grünwald herein.
Als wir uns alle an den Tisch gesetzt hatten – wir drei saßen Frau Grünwald gegenüber – kam noch ein Mann mittleren Alters, ebenfalls in Zivil, in den Raum. „So, das ist Herr Kriminalkommissar Richter, damit sind wir vollzählig.
Ich möchte zu Beginn noch einmal die bekannten Personalien erfassen. Ich habe hier zwar die Aufzeichnungen von Herrn Hauser, aber bei solchen Dingen bin ich eher eigen.“
Nach einer Viertelstunde war dieses Thema vorerst beendet, auch wenn sie jetzt mehr über mich wusste, als ich über sie. Mir wurde langweilig, und das bemerkte offenbar auch Katja.
„Dir ist langweilig, oder?“ Ich sah sie dankbar an und nickte. Sie flüsterte mir leise zu: „Ich habe bis jetzt gar nicht daran gedacht, dass du vielleicht etwas zum Spielen brauchst.“
Sie schaute sich im Zimmer um, und Herr Richter schien unser Anliegen registriert zu haben.
„Wir sind zwar nicht von diesem Revier, aber normalerweise gibt es immer irgendwo eine Kiste mit ein paar Spielsachen. Wenn Sie möchten, erkundige ich mich kurz, damit es nicht zu anstrengend für ihn wird.“
Katja schaute zu den beiden Kripo-Beamten. „Für mich ist diese Rolle ziemlich neu. Das wäre super. In Zukunft werde ich darauf achten, dass ich auf solche Eventualitäten vorbereitet bin.“
Daraufhin stand Herr Richter auf und verließ das Zimmer. Frau Grünwald wandte sich an Thomas:
„Mein Ex-Mann hat immer gesagt, wer zwei Doktortitel hat, muss völlig verrückt sein.“ Sie schien auf seine Reaktion zu warten. „Spricht das jetzt für oder gegen mich?“ Frau Grünwald lachte. „Wir waren keine drei Jahre verheiratet.“ Thomas grinste. „Er hatte aber recht. Der Doktortitel in Medizin war immer mein Ziel, das ich mit viel Mühe erreicht habe – nur um dann zu merken, dass die Psychologie eigentlich das ist, was mich wirklich interessiert. Was Ihr Ex-Mann angedeutet hat, ist nicht falsch. Es ist schon verrückt, das alles noch einmal zu tun, wenn man weiß, was auf einen zukommt. Aber mir war das egal.“
Frau Grünwald nickte. „Besser das tun, wofür man brennt, als sich ein Leben lang herumzuquälen.“
Sie wandte sich dann an Katja: „Und Sie? Wie kommen Sie in diese Konstellation?“
Thomas nahm ihr die Antwort ab. „Ich denke, dafür müssen wir weiter ausholen.“
Frau Grünwald lehnte sich in ihrem Stuhl zurück. „Gut, dann warten wir, bis Herr Richter zurückkommt.“
Thomas suchte kurz Blickkontakt zu mir. Ich saß noch immer am Tisch und versuchte, dem Gespräch zu folgen, aber wirklich interessant fand ich es nicht. Er wandte sich wieder an Frau Grünwald.
„Ich habe mit Benjamin besprochen, dass ich von meiner ärztlichen Schweigepflicht Ihnen gegenüber entbunden bin. Wäre es möglich, das im kleinen Rahmen zu halten?“
Frau Grünwald richtete ihre volle Aufmerksamkeit sofort auf Thomas. „Wie meinen Sie das? Alles, was wir hier besprechen, ist offiziell. Klar ist uns der besondere Schutz von Minderjährigen in Bezug auf ihre Persönlichkeit wichtig. Es werden keine Informationen an die Presse weitergegeben, aber jeder, der in die Ermittlungen eingebunden ist, wird Zugriff auf Ihre Aussage haben.“
Thomas schaute wieder zu mir.
„Hast du verstanden, was das für dich bedeutet? Wenn wir jetzt mit Frau Grünwald und Herrn Richter über dich sprechen, gibt es kein Zurück mehr. Ist das okay für dich, oder möchtest du noch einmal kurz allein darüber reden?“
Ich wusste für mich, dass es aufhören sollte, und griff nach Katjas Hand, die mich seitlich in den Arm nahm. „Nein, es soll aufhören!“
Thomas nickte. „Okay, Benjamin, du machst das Richtige.“ Er sah wieder zu Frau Grünwald. „Dann werden wir jetzt vermutlich ein sehr langes Gespräch führen.“
Sie musterte uns abwechselnd. „Sie haben meine volle Aufmerksamkeit.“
Herr Richter betrat wieder den Raum, diesmal mit einer durchsichtigen Kiste, in der einige Bücher und ein paar Spielzeugautos lagen. Er stellte sie vor die Couch.
„So, kleiner Mann, damit dir nicht so langweilig wird.“
Katja lächelte mich an. „Los, geh ein bisschen spielen. Wenn wir dich brauchen, rufe ich dich.“ Ein wenig unschlüssig stand ich auf und sah mir den Inhalt der Kiste an. Bis auf die beiden Male auf dem Spielplatz konnte ich mich nicht erinnern, wann ich das letzte Mal richtig gespielt hatte. Das Bauen des Lego-Baggers, den wir übrigens nicht einmal annähernd fertiggestellt hatten, weil es wesentlich schwieriger war, als ich gedacht hatte, zähle ich mal nicht mit.
Während ich anfing, die Autos zu inspizieren und zu testen, wie gut sie auf dem glatten Boden rollen konnten, begann Thomas zu sprechen: „Also, ich bitte Sie, sich das, was ich Ihnen jetzt erzähle…“
Ich nahm kaum noch wahr, was gesagt wurde. Es schien ähnlich zu verlaufen wie heute Morgen, als Katja eingeweiht wurde. Das Rollenlassen der Autos machte richtig viel Spaß.
Ich kann nicht sagen, wie viel Zeit vergangen war, als ich Lust bekam, etwas anderes zu machen. Ich nahm eines der Kinderbücher – es ging, wie sollte es auch anders sein, über die Polizei. Ich ging damit zum Tisch. Es wäre schön gewesen, das Buch mit Katja anzusehen, aber sie war in das Gespräch vertieft.
Sie schaute zwar in regelmäßigen Abständen zu mir, lächelte kurz, und wandte sich dann wieder dem Gespräch zu. Am Tisch war es jedoch unvermeidlich, Teile des Gesprächs mitzuhören.
Frau Grünwald sagte: „Man braucht schon viel Fantasie, um das, was Sie uns gerade erzählt haben, glauben zu können. Aber ich liebe Rätsel – vielleicht auch einer der Gründe, warum ich das überhaupt noch mache.
Also nehmen wir mal als Gedankenspiel an, es wäre so. Da gäbe es ein paar Sachen, die ich gerne noch wissen möchte. Sie sagen, dass Sie nicht wissen, wie alt Benjamin wirklich ist. Können Sie das bitte etwas genauer erläutern?“
Thomas antwortete: „Jedes Kind entwickelt sich unterschiedlich schnell. Anhand der Größe ist das schwer zu beurteilen. Die Zähne sind da schon ein besserer Indikator. Sie wurden zwar noch nicht untersucht, aber er scheint noch Milchzähne zu haben. Wie Sie vielleicht schon bemerkt haben, fehlt ihm ein Schneidezahn. Wir können jedoch nicht sagen, ob er einfach ausgefallen ist oder vor seiner Amnesie anderweitig abhandengekommen ist. Wir können aber schonmal sagen, dass er vermutlich nicht älter als acht Jahre ist.
Ab hier wird es schwieriger. Es gibt die Möglichkeit, das Knochenalter über ein Röntgenbild der Hand zu bestimmen, aber in ganz Deutschland gibt es nur wenige Fachleute, die das wirklich gut machen, und selbst die haben eine durchschnittliche Genauigkeit von plus/minus 3,5 Jahren.
Auf seinen Wissensstand zu setzen, ist noch schwieriger, da er auf Erinnerungen eines ganzen Lebens zurückgreift. Sie sehen, was ich meine?“
Frau Grünwald fragte, wie aus der Pistole geschossen: „Gibt es denn eine Möglichkeit, zwischen den Erinnerungen und denen, die er selbst hat, zu unterscheiden?“
Thomas überlegte kurz. „Mh… schwierig.“ Er sah zu mir, während ich das Buchlesen aufgegeben hatte und dem Gespräch folgte.
„Wir wissen ja nicht mal, ob er überhaupt eigene Erinnerungen hat.“ Er schaute wieder zu Frau Grünwald, die gerade in ihrer Tasche kramte. Doch bevor ich sehen konnte, was es war, sagte Thomas energisch: „Stop, nicht rausholen!“
Frau Grünwald hielt in ihrer Bewegung inne und sah ihn fragend an. „Entschuldigung, ich brauche Nervennahrung, um Rätsel zu lösen.“
„Lassen Sie es bitte drin, mir kommt da eine Idee.“ Frau Grünwald schob etwas Knisterndes zurück in ihre Tasche und schaute Thomas aufmerksam an. „Raus damit, was denken Sie?“
Thomas lächelte und fragte in die Runde: „Wie fühlt sich Wasser an?“
Herr Richter lachte: „Nass natürlich, aber wie bringt uns das jetzt weiter?“
Thomas grinste. „Ja, aber was ist nass? Wie würden Sie jemandem das Gefühl beschreiben, der es nicht kennt?“
Herr Richter schien zu überlegen. „Keine Ahnung, man weiß doch, wie sich Nässe anfühlt.“
Frau Richter musterte Thomas aufmerksam, als könnte sie ihm folgen. „Ja, Sie wissen das. Aber stellen Sie sich vor, Sie wüssten, dass Wasser nass ist, aber Sie sind noch nie nass geworden.
Oder Sie wissen, dass eine Zitrone sauer schmeckt, aber was ist eigentlich sauer? Können Sie mir folgen?“
Herr Richter schaute skeptisch. Frau Grünwald schien es jedoch zu verstehen. „Man kann das nur durch Erfahrungen lernen. Wenn ich Ihnen erkläre, was Schmerz ist, aber Sie ihn noch nie empfunden haben, können Sie es erst nachvollziehen, wenn Sie sich das erste Mal gestoßen haben. Wie bringt uns das weiter?“
„Die meisten dieser Erfahrungen machen wir in der Kindheit, deswegen ist sie ja auch so aufregend – ständig neue Eindrücke, die es zu erleben gilt. Wenn man es so betrachtet, hat man Benjamin seine Kindheit genommen. Er weiß all die Dinge, die wir Stück für Stück lernen, schon. Stellen Sie sich vor, egal welches Buch oder Rätsel Sie beginnen, Sie wissen immer, wie es ausgeht. Und genau da möchte ich ansetzen.“
Thomas sah zu mir, als er mein fragendes Gesicht bemerkte, und dann zu Katja. „Katja, kannst du bitte Benjamin die Augen zuhalten?“
Katja schaute ebenso fragend, aber sie setzte mich auf ihren Schoß und hielt mir die Augen zu.
Thomas wandte sich an Frau Grünwald: „Bitte, sagen Sie nichts, während Sie es aus Ihrer Tasche holen. Ich hoffe, ich habe den Inhalt eben richtig erkannt.“ Es raschelte.
„Benjamin, öffne bitte deine Hand und beschreibe, was du fühlst.“
„Es ist klein, es hat Hügel, und es ist weich.“
„Super, Benjamin. Kannst du mir sagen, was es ist?“
„Nein.“
„Nicht schlimm. Nimm es in den Mund, und wenn du es gegessen hast, sag mir, was du denkst. Katja, er muss die Augen weiterhin geschlossen halten.“
Ich wusste nicht, was es war, aber es schmeckte lecker. „Und Benjamin, weißt du jetzt, was es war?“
„Ja, lecker.“ Das schien alle zum Lachen zu bringen.
„Ja, das auch. Aber kannst du mir sagen, was du gerade gegessen hast? Hat es nach einer Frucht geschmeckt?“
„Nein, weiß nicht.“
„Katja, du darfst ihm jetzt die Augen öffnen.“ Als Katja ihre Hände von meinem Gesicht wegnahm, erblickte ich einen Beutel Gummibären. „Gummibären! Lecker! Kann ich noch eins haben?“
Frau Grünwald schob mir lächelnd den Beutel zu. „Ich finde die auch total lecker.“
Thomas schaute mich an und sagte: „Benjamin, das ist eine sehr gute Nachricht.“
„Wieso?“ fragte ich, während ich weiter kaute.
„Du hast Erinnerungen. Du wusstest sofort, dass es Gummibären sind, als du sie gesehen hast. Aber du hast diese Erinnerung nicht selbst gesammelt. Jedes Kind, das einmal Gummibären gegessen hat, würde sie auch mit geschlossenen Augen erkennen, weil die Erinnerung an den Geschmack mit einer eigenen Erfahrung verknüpft ist. Bei dir ist das nicht der Fall. Das bedeutet, du kannst noch so viel entdecken, was du heute schon glaubst zu wissen.“
Die anderen schienen nun zu verstehen, was er meinte. Frau Grünwald nickte nachdenklich. „Und wie hilft uns das jetzt weiter?“
Thomas fuhr fort: „Ein genaues Alter festzulegen, wird immer noch schwierig, aber vielleicht kommen wir der Sache näher.“
Er zeigte auf das Buch, das vor mir lag. „Benjamin, kannst du uns daraus etwas vorlesen?“
Katja nahm das Buch und schlug es auf. Mit leiser und etwas unsicherer Stimme begann ich zu lesen:
„Wenn ihr einen Notfall melden müsst, dann denkt an die wichtigsten Fragen: Wer ruft an, was ist passiert, wo ist es passiert…“
Thomas unterbrach mich sanft. „Super, Benjamin. Das hast du ganz toll gemacht.“
Dann deutete er auf den Block vor Herrn Richter. „Könnte ich den samt Stift bitte einmal bekommen?“
Herr Richter schob beides zu ihm hinüber. „Benjamin, kannst du deinen Namen aufschreiben?“
Ich nahm den Stift, wollte ansetzen, aber es fiel mir schwer, ihn richtig zu halten. Katja half mir, ihn zwischen Daumen und Zeigefinger zu positionieren, aber selbst dann schaffte ich es kaum, die Buchstaben aus meinem Kopf aufs Papier zu bringen. Die Linien waren krakelig und ungleichmäßig, und es sah überhaupt nicht aus wie mein Name.
„Okay, Benjamin, auch das hast du super gemacht.“ Thomas schien mich aufmuntern zu wollen, doch ich war nicht überzeugt.
„Dir fehlt einfach die praktische Erfahrung. Das lernst du dann in der Schule.“ Er wandte sich an die anderen.
„Ich würde sagen, entweder wurde ihm der Schulbesuch verwehrt oder er hat die Schule noch nicht besucht.“
Frau Grünwald fragte: „Okay, was denken Sie nun zu seinem Alter?“
Thomas überlegte kurz, sah mich an und antwortete dann: „Eine genaue Zahl kann ich Ihnen noch immer nicht nennen, aber ich würde meine ursprüngliche Einschätzung etwas nach unten korrigieren. Vielleicht habe ich mich von seinem Wissen täuschen lassen. Ich würde sagen, sechs bis sieben Jahre alt – aber das ist nur eine Schätzung, ich kann mich auch irren.“
Frau Grünwald schaute zu mir. „Benjamin, Thomas hat mir erzählt, dass die letzte klare Erinnerung, die du vor deinem Erwachen im Krankenhaus hast, aus dem Jahr 2017 stammt. Und dass ihr bei euren Recherchen im Internet herausgefunden habt, dass es nach Ende November desselben Jahres keine Aktivitäten mehr auf deinen Accounts gab?“
Ich nickte.
„Dann haben wir eine Lücke von fast sieben Jahren,“ sagte sie und wandte sich wieder an Thomas.
„Das würde ja ungefähr zu Ihrer Einschätzung passen.“
Währenddessen hatte ich die Gummibärchen-Tüte geleert – sie waren wirklich lecker.
Frau Grünwald richtete nun ihre Aufmerksamkeit wieder auf mich. „Und du hast gesagt, dass der Körper in deiner Erinnerung und dein jetziger Körper sich gleich nur älter anfühlt, besonders wegen des Muttermals, das ihr beide teilt?“
Ich nickte erneut, aber diesmal fühlte ich mich etwas seltsam.
Sie wandte sich nun wieder an Thomas.
„Das ist jetzt nicht mein Fachgebiet, aber sind wir heute theoretisch in der Lage, einen Menschen zu klonen?“
Thomas zuckte mit den Schultern. „Auch nicht meines, aber es gab schon vor über zwanzig Jahren Versuche mit Säugetieren. Die Fehlerquote war zwar hoch, aber das war 1996. Wer weiß, was hinter verschlossenen Türen passiert.“
Frau Grünwald dachte kurz nach. „Nur ein Gedankenspiel – was bräuchte man dafür?“
Thomas überlegte kurz und antwortete dann: „Nun, theoretisch braucht man für einen Klon die DNA einer Person, die man exakt reproduzieren will. Das geht über verschiedene Methoden, wie z. B. das Entnehmen einer Zelle, die alle genetischen Informationen enthält. Diese Informationen werden dann in eine Eizelle ohne eigenen Zellkern eingesetzt und unter Laborbedingungen entwickelt. Aber das ist sehr vereinfacht und alles auf ein extrem hohes technisches Niveau angewiesen. Klonen ist zwar im Tierreich in begrenztem Maße möglich, aber bei Menschen… da gibt es unzählige ethische und rechtliche Hürden, abgesehen von den biologischen Herausforderungen.“
Frau Grünwald nickte nachdenklich und führte den Gedankengang weiter: „Wenn wir annehmen, dass das tatsächlich passiert wäre dann könnten wir von den Sieben Jahren auch noch mindestens 9 Monate abziehen…“ Sie hielt kurz inne und sah mich an. „Dann wäre Benjamin nicht nur ein Klon, sondern vermutlich auch ein Experiment, das jahrelang beobachtet und auf eine bestimmte Weise erzogen wurde.“
Thomas sah sie an, als würde er das Gedankenspiel noch einmal durchgehen. „Das würde aber nicht erklären, warum er all das Wissen hat, aber keine eigenen Erfahrungen. Warum er sich an viele Dinge erinnern kann, aber keine echten Kindheitserlebnisse hat. Es könnte aber erklären, warum seine Entwicklung nicht den normalen Mustern entspricht.“
Frau Grünwald lehnte sich zurück. „Das ist wirklich verrückt. Aber nehmen wir mal an, das wäre tatsächlich der Fall. Wer würde so etwas tun? Und warum?“
Thomas schüttelte den Kopf. „Das ist die große Frage. Aber Fakt ist, wir haben es hier mit einem Kind zu tun, das in vielerlei Hinsicht nicht normal aufgewachsen ist. Ob Klon oder nicht, die zentrale Frage bleibt: Was ist in diesen sieben Jahren passiert, und wer ist verantwortlich?“
Herr Richter, der bislang still zugehört hatte, meldete sich nun zu Wort: „Wenn diese Theorie auch nur ansatzweise stimmt, dann reden wir hier über etwas, das weit über das hinausgeht, was wir bisher angenommen haben. Wir müssen weitere Experten hinzuziehen.“
Ich saß da und verstand nicht alles, was besprochen wurde, aber ich spürte die Spannung im Raum.
Frau Grünwald schaute mich mit einem seltsamen Ausdruck an, fast so, als ob sie mich in einem neuen Licht sehen würde.
Mir wurde plötzlich schlecht, nicht wegen dem, was sie besprachen – das bekam ich ohnehin nur am Rande mit – sondern weil mein Magen auf einmal rebellierte. Katja bemerkte, dass ich unruhig wurde und fragte besorgt: „Benni, ist alles in Ordnung?“ Doch bevor ich antworten konnte, spürte ich, wie sich mein Magen umdrehte. Instinktiv hielt ich meine Hand vor den Mund, und in der nächsten Sekunde übergab ich mich auf den Boden. Ein unangenehm süßlich-saurer Geruch stieg mir in die Nase, während mir Tränen die Wangen hinunterliefen. Ich begann zu schluchzen.
„Oh Benni, das ist nicht schlimm. Wahrscheinlich war das einfach zu viel, die Pizza und dann noch die ganze Tüte Gummibären.“ Katja drehte mich sanft um und streichelte mir beruhigend den Rücken.
Thomas stand schnell auf, ging zum Wasserkasten und reichte Katja ein Glas. „Hier, lass ihn einen Schluck Wasser trinken, das hilft gegen den Geschmack im Mund. Danach ziehen wir ihn um.“
Während Herr Richter ein Fenster öffnete, erhob sich auch Frau Grünwald. „Vielleicht sollten wir für heute Schluss machen“, sagte sie. „In Anbetracht der letzten Tage schlage ich vor, dass Sie heute Nacht im Hotel schlafen. Wir sind im Hotel am Hauptbahnhof untergebracht, da können wir Sie auch unterbringen, bis wir eine langfristigere Lösung haben.“
Thomas und Katja nickten zustimmend. Katja half mir vorsichtig aus meinen verschmutzten Kleidern, während sie mich beruhigend auf die Couch setzte. Sie holte frische Sachen aus meiner Tasche – eine Jogginghose und einen grauen Pullover. „Schade, der Tyrannosaurus war so toll“, dachte ich, während sie meine Schuhe mit einem feuchten Tuch säuberte.
„Bei deinem Verschleiß brauche ich später wohl eine größere Waschmaschine“, sagte Katja leicht scherzhaft. „Und ich muss darauf achten, was du isst. Aber ich kann dir keinen Vorwurf machen – wenn ich meinen Geschmackssinn neu entdecken würde, wüsste ich auch nicht, wann genug ist.“
Thomas kam mit einem Eimer und einer Küchenrolle zurück ins Zimmer, doch Katja nahm ihm die Arbeit ab. „Das überlasse lieber mir. Benni gehört für mich ja schon dazu, und dank der Kinderkrankenstation bin ich abgehärtet.“ Thomas sah sichtlich erleichtert aus, sich nicht darum kümmern zu müssen.
Kurz darauf gingen wir nach unten, wo Frau Grünwald und Herr Richter bereits auf uns warteten.
„Habt ihr alles?“ fragte Frau Grünwald. Thomas hob beide Taschen hoch, während Katja mich an der Hand hielt.
Draußen war es bereits dunkel, und wir stiegen in einen großen dunklen Bus ein. Ich saß am Fenster und beobachtete fasziniert die vorbeiziehenden Lichter und Gebäude. Obwohl es schon spät war, fühlte ich mich erstaunlich wach. Wir fuhren durch belebte Straßen, über einen Bahnübergang und entlang eines Flusses, auf dem ich Schiffe entdeckte. Das fand ich besonders spannend. Schließlich bogen wir in eine kleinere Straße ein, vorbei an einigen Parkplätzen.
Ein großes Gebäude zog meine Aufmerksamkeit auf sich. Katja bemerkte meinen neugierigen Blick und erklärte: „Das dort ist der Bahnhof. Wir sind gleich da.“
Plötzlich durchfuhr mich eine Welle von Bildern – Erinnerungen, die ich nicht zuordnen konnte. Der Anblick des Taxis vor dem Bahnhof löste etwas in mir aus, das mich panisch machte. Ich schrie auf, wollte aufstehen und weglaufen, doch der Gurt hielt mich zurück.
„Benjamin, was ist los?“ fragte Katja erschrocken. „Beruhige dich, wir sind bei dir. Du bist in Sicherheit.“
Der Bus stoppte, und plötzlich war ich ganz ruhig.
Ich schaute die anderen an, meine Stimme emotionslos: „Ich erinnere mich.“
Fortsetzung folgt…
Autor: michaneo (eingesandt via E-Mail)
Diese Geschichte darf nicht kopiert werden.
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Die einzige Geschichte bei der ich Kommentiere….Weiter so Detailreich, super Idee!
Danke
Phänomenal! Unbedingt weiter schreiben so etwas gutes habe ich hier lange nicht gelesen, spannend und emotional. Super! Weiter so!
Super Action, sehr kreativ
Darüber kannst du win komplettes buch schreiben
Ich glaube ich hing noch nie so sehr an einer Geschichte und hab mir gewünscht dass es weitergeht
Unfassbar gut! Bitte schreib weiter!